Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.Der Lvaiigelisiiius in Rußland Den realen Verhältnissen dieser Welt sind die religiösen Ideen sowohl Dieses Credo ist augenscheinlich ein Bekenntnis mehr des Kopfes als Grenzboten II 1898 28
Der Lvaiigelisiiius in Rußland Den realen Verhältnissen dieser Welt sind die religiösen Ideen sowohl Dieses Credo ist augenscheinlich ein Bekenntnis mehr des Kopfes als Grenzboten II 1898 28
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Der Lvaiigelisiiius in Rußland
Den realen Verhältnissen dieser Welt sind die religiösen Ideen sowohl
des Vater Johann als des Grafen Tolstoi vor allem zugewandt; beide streben
darnach, das Elend des Menschen zu lindern, beide thun es ohne Rücksicht
auf Kirchentum oder Volkstum, als Humanisten im reinsten Sinne; beide
Predigen nicht die Furcht, sondern die Liebe, nicht die Schrecken des Gerichts,
noch die Buße, noch die Erlösung zum künftigen Leben, sondern die Wege
Gottes in diesem Leben. Beide gründen ihren Glauben, ihre Lehre auf das
Evangelium, beide widmen sich selbst, ihre Person und ihre Habe dem Wohl¬
thun, der praktischen Nachfolge Christi. Aber Vater Johann ist der Mann
aus der Hütte, der einfältig Gläubige, der die Lehre Christi mit dem Gemüt
Empfangende, ohne eignes kritisches Zuthun, ohne Grübelei, ohne viel Reflexion,
der Evangelist des Herzens. Tolstoi ist Denker, geschulter Denker, von großer
Kraft der kritischen Vorstellung und Unterscheidung, mit reicher Schulbildung,
der die Lehren Christi mit selbständigem Geist verarbeitet und ins Leben ein¬
führt. Das Wesen ihres Christentums finden beide in der Bergpredigt. Aber
jeder schöpft aus ihr das, was seiner Natur zusagt. Vater Johann ließ sich
von dem Geist der großen Rede Christi erfüllen, erleuchten und folgte ihren
Geboten instinktiv; Tolstoi betrachtete jeden Vers, prüfte jedes Wort und
Päckte es fest, wie er es verstand, um es nicht mehr loszulassen, um es zu
dem Kern seines evangelischen Glaubens, zur Norm des Lebens zu machen. Auch
er suchte nach dem Geist, aber mehr als Vater Johann auf dem Wege der
rationellen Forschung, und deshalb ist dieser Denker dem Geist der Bergpredigt
serner geblieben als der Priester; denn diese Predigt will vor allem empfunden,
nicht begriffen werden. Selig sind die geistig Armen, die Leidtragenden, die
sanftmütigen, die Hungernden nach der Gerechtigkeit, die Barmherzigen, die
reines Herzens sind, die Friedfertigen — das ist das Evangelium des Vater
Johann. „Zürnet nicht, ehebrechet nicht, schwöret nicht, verteidigt euch nicht
durch Gewalt, führet keine Kriege" — das ist das Evangelium des Grafen
Tolstoi. („Worin besteht mein Glaube," Seite 270.)
Dieses Credo ist augenscheinlich ein Bekenntnis mehr des Kopfes als
des Herzens. Tolstoi ist dazu gelangt, indem er im Evangelinm nach den
Mitteln suchte, das Elend des täglichen Lebens zu mildern. Er fand in den
Lehren Christi diese Vorschriften, von denen er annahm, daß sie die Menschheit
zu einem bessern Erdenleben, ja zur Glückseligkeit erheben könnten. Er fand,
daß Christus geboten habe: „Lebe für die Glückseligkeit, hüte dich aber vor —
der Versuchung." „Die Gebote Christi, sagt er, geben mir die Mittel der
Errettung ans den Versuchungen." Ein göttliches Erdenleben ist demnach
das Ziel und der Zweck der evangelischen Lehren. Die Moral allein ist hier
zurückgeblieben, ist gesondert von dem transcendenter Inhalt des Evangeliums,
der das so nahe verwandte Streben und Leben des Vater Johann doch durch¬
leuchtet. Beide kämpfen gegen das menschliche Elend, aber Tolstoi ist evange-
Grenzboten II 1898 28
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