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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelismus in Rußland

die an das Wunderbare grenzt. Sem Anhang ist ungeheuer, aber wie er
nicht nach konfessionellen Lehren und kirchlichen Formen fragt,-so erzeugt er
in seinem Anhang auch nur den Glauben an das praktische Christentum seines
Heiligen und die Macht seines Gebetes. Daher bildet sich keine Sekte, kein
Abfall von der orthodoxen Kirche, und daher findet dieser Heilige kein Mi߬
trauen und kein Hindernis bei der Obrigkeit. Nicht sowohl in der Lehre, als
in dem Glauben und dem Leben des Vater Johann liegt das Gewicht seines
Evangeliums, und deshalb wird dieser Mann keine Gemeinde, keine Nachfolge
bei seinem Tode hinterlassen, sondern nur die persönliche Erinnerung und den
Heiligenschein.

Welche Gegensätze: Hier in dem einfachen Häuschen zu Kronstäbe der
arme Priester, den das Volk umdrängt, wo er sich zeigt, nur um sein Gewand
Zu berühren, der des Abends nicht einen Rubel und am nächsten Morgen
zehntausend in der Tasche hat, dessen Rat oder Segen täglich Hunderte von
Leuten aller Stunde brieflich oder mündlich erbitten, dem die Gaben zuströmen,
und der doch nie Geld hat, der nichts erwirbt als den Dank und den Segen
derer, denen er Gutes that; und dort hinter Moskau auf seinem Landgute ein
andrer Prophet, der Graf Tolstoi, im Kleide des Bauern den Pflug lenkend
oder Stiefel besohlend oder Bücher schreibend -- welche Gegensätze, und doch
wie viel Verwandtes in ihnen!

Weder Vater Johann noch Leo Tolstoi ist Prophet des Dogmas. Ihr
religiöses Bedürfnis drängt nicht ungestüm zu der Erkenntnis übersinnlicher
Wahrheiten, zu jener Vertrautheit mit Gott und dem göttlichen Willen, die
zu Kirchentum, zu göttlich geheiligten Heilswahrheiten, zu Priestertum und
Herrschaft leitet. Zu allen Zeiten hat das religiöse Bedürfnis die Menschen
in zwei Richtungen Befriedigung suchen lassen: die einen finden das Heil in
der Anbetung, die andern im Handeln, die einen im Glauben an göttliche
Lehren, die andern im Befolgen göttlicher Gebote, die einen in idealem Ver¬
senken in sich selbst, die andern im Bethätigen nach anßen. Und das Ziel,
wohin jeder dieser Wege führt, ist dieses: die einen, die von dem Übersinn¬
lichen, der Abstraktion des reinen Geistes ausgehen, schaffen das Dogma, die
Kirche, die Hierarchie mit ihrer weltlichen Macht; die andern, die von der
Not des täglichen Menschenlebens ausgehen, schaffen in der einzelnen Brust
die Versöhnung zwischen Gott und Welt. Je nach der persönlichen Geistes¬
anlage neigt der eine mehr dieser, der andre mehr jener religiösen Entwicklung
zu, und je weniger ausschließlich er sich nach einer der beiden Richtungen hin
entwickelt, um so eher wird Fanatismus hier, Verflachung dort vermieden
werden. Wem die Religion nur die Brücke zum künftigen Leben ist, der wird
leicht zum eifernden Priester mit Richtschwert und Scheiterhaufen; wer in der
Religion nur die Moral findet, der wird das irdische Leben nicht ganz
erfassen.


Der Lvangelismus in Rußland

die an das Wunderbare grenzt. Sem Anhang ist ungeheuer, aber wie er
nicht nach konfessionellen Lehren und kirchlichen Formen fragt,-so erzeugt er
in seinem Anhang auch nur den Glauben an das praktische Christentum seines
Heiligen und die Macht seines Gebetes. Daher bildet sich keine Sekte, kein
Abfall von der orthodoxen Kirche, und daher findet dieser Heilige kein Mi߬
trauen und kein Hindernis bei der Obrigkeit. Nicht sowohl in der Lehre, als
in dem Glauben und dem Leben des Vater Johann liegt das Gewicht seines
Evangeliums, und deshalb wird dieser Mann keine Gemeinde, keine Nachfolge
bei seinem Tode hinterlassen, sondern nur die persönliche Erinnerung und den
Heiligenschein.

Welche Gegensätze: Hier in dem einfachen Häuschen zu Kronstäbe der
arme Priester, den das Volk umdrängt, wo er sich zeigt, nur um sein Gewand
Zu berühren, der des Abends nicht einen Rubel und am nächsten Morgen
zehntausend in der Tasche hat, dessen Rat oder Segen täglich Hunderte von
Leuten aller Stunde brieflich oder mündlich erbitten, dem die Gaben zuströmen,
und der doch nie Geld hat, der nichts erwirbt als den Dank und den Segen
derer, denen er Gutes that; und dort hinter Moskau auf seinem Landgute ein
andrer Prophet, der Graf Tolstoi, im Kleide des Bauern den Pflug lenkend
oder Stiefel besohlend oder Bücher schreibend — welche Gegensätze, und doch
wie viel Verwandtes in ihnen!

Weder Vater Johann noch Leo Tolstoi ist Prophet des Dogmas. Ihr
religiöses Bedürfnis drängt nicht ungestüm zu der Erkenntnis übersinnlicher
Wahrheiten, zu jener Vertrautheit mit Gott und dem göttlichen Willen, die
zu Kirchentum, zu göttlich geheiligten Heilswahrheiten, zu Priestertum und
Herrschaft leitet. Zu allen Zeiten hat das religiöse Bedürfnis die Menschen
in zwei Richtungen Befriedigung suchen lassen: die einen finden das Heil in
der Anbetung, die andern im Handeln, die einen im Glauben an göttliche
Lehren, die andern im Befolgen göttlicher Gebote, die einen in idealem Ver¬
senken in sich selbst, die andern im Bethätigen nach anßen. Und das Ziel,
wohin jeder dieser Wege führt, ist dieses: die einen, die von dem Übersinn¬
lichen, der Abstraktion des reinen Geistes ausgehen, schaffen das Dogma, die
Kirche, die Hierarchie mit ihrer weltlichen Macht; die andern, die von der
Not des täglichen Menschenlebens ausgehen, schaffen in der einzelnen Brust
die Versöhnung zwischen Gott und Welt. Je nach der persönlichen Geistes¬
anlage neigt der eine mehr dieser, der andre mehr jener religiösen Entwicklung
zu, und je weniger ausschließlich er sich nach einer der beiden Richtungen hin
entwickelt, um so eher wird Fanatismus hier, Verflachung dort vermieden
werden. Wem die Religion nur die Brücke zum künftigen Leben ist, der wird
leicht zum eifernden Priester mit Richtschwert und Scheiterhaufen; wer in der
Religion nur die Moral findet, der wird das irdische Leben nicht ganz
erfassen.


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[0224] Der Lvangelismus in Rußland die an das Wunderbare grenzt. Sem Anhang ist ungeheuer, aber wie er nicht nach konfessionellen Lehren und kirchlichen Formen fragt,-so erzeugt er in seinem Anhang auch nur den Glauben an das praktische Christentum seines Heiligen und die Macht seines Gebetes. Daher bildet sich keine Sekte, kein Abfall von der orthodoxen Kirche, und daher findet dieser Heilige kein Mi߬ trauen und kein Hindernis bei der Obrigkeit. Nicht sowohl in der Lehre, als in dem Glauben und dem Leben des Vater Johann liegt das Gewicht seines Evangeliums, und deshalb wird dieser Mann keine Gemeinde, keine Nachfolge bei seinem Tode hinterlassen, sondern nur die persönliche Erinnerung und den Heiligenschein. Welche Gegensätze: Hier in dem einfachen Häuschen zu Kronstäbe der arme Priester, den das Volk umdrängt, wo er sich zeigt, nur um sein Gewand Zu berühren, der des Abends nicht einen Rubel und am nächsten Morgen zehntausend in der Tasche hat, dessen Rat oder Segen täglich Hunderte von Leuten aller Stunde brieflich oder mündlich erbitten, dem die Gaben zuströmen, und der doch nie Geld hat, der nichts erwirbt als den Dank und den Segen derer, denen er Gutes that; und dort hinter Moskau auf seinem Landgute ein andrer Prophet, der Graf Tolstoi, im Kleide des Bauern den Pflug lenkend oder Stiefel besohlend oder Bücher schreibend — welche Gegensätze, und doch wie viel Verwandtes in ihnen! Weder Vater Johann noch Leo Tolstoi ist Prophet des Dogmas. Ihr religiöses Bedürfnis drängt nicht ungestüm zu der Erkenntnis übersinnlicher Wahrheiten, zu jener Vertrautheit mit Gott und dem göttlichen Willen, die zu Kirchentum, zu göttlich geheiligten Heilswahrheiten, zu Priestertum und Herrschaft leitet. Zu allen Zeiten hat das religiöse Bedürfnis die Menschen in zwei Richtungen Befriedigung suchen lassen: die einen finden das Heil in der Anbetung, die andern im Handeln, die einen im Glauben an göttliche Lehren, die andern im Befolgen göttlicher Gebote, die einen in idealem Ver¬ senken in sich selbst, die andern im Bethätigen nach anßen. Und das Ziel, wohin jeder dieser Wege führt, ist dieses: die einen, die von dem Übersinn¬ lichen, der Abstraktion des reinen Geistes ausgehen, schaffen das Dogma, die Kirche, die Hierarchie mit ihrer weltlichen Macht; die andern, die von der Not des täglichen Menschenlebens ausgehen, schaffen in der einzelnen Brust die Versöhnung zwischen Gott und Welt. Je nach der persönlichen Geistes¬ anlage neigt der eine mehr dieser, der andre mehr jener religiösen Entwicklung zu, und je weniger ausschließlich er sich nach einer der beiden Richtungen hin entwickelt, um so eher wird Fanatismus hier, Verflachung dort vermieden werden. Wem die Religion nur die Brücke zum künftigen Leben ist, der wird leicht zum eifernden Priester mit Richtschwert und Scheiterhaufen; wer in der Religion nur die Moral findet, der wird das irdische Leben nicht ganz erfassen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/224>, abgerufen am 23.07.2024.