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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Alphonse Daudet

mortsl, diese heftige Satire gegen die französische Akademie, und L^xlro, worin
Daudet das Leben einer modernen Manon Leseaut schildert und die Unmög¬
lichkeit nachweisen will, aus einer Kurtisane wieder ein ehrbares Wesen zu
machen. Dagegen hat sich Daudet mit seinem Roman 1,3. ?n.wi88ö (Die
kleine Kirche, ein Eheroman. Autorisirte Übersetzung von W. A. Meyer.
Deutsche Verlagsanstalt, 1896) wieder dem Leben auf dem Lande zugewandt,
aber das in diesem Roman behandelte Problem, ob eine treulose Frau wieder
die Liebe des betrogneu Gatten gewinnen könne, ist doch wenig tief auf¬
gefaßt und wenig befriedigend gelöst worden. In dem letzten Romane ist der
Verfall von Daudets schöpferischer Kraft sehr merkbar; namentlich ist ihm
eine Eigenschaft abhanden gekommen, die über die meisten seiner Schriften
einen wundervollen Zauber verbreitet, das ist der unter Thränen lachende
Humor.

Man pflegt den französischen Schriftstellern den Humor überhaupt abzu¬
sprechen, schon deshalb, weil die Franzosen keinen Ausdruck für Humor hätte".
Das ist eine von den vielen thörichten Behauptungen, die urteilslos von aller
Welt nachgesprochen werden. Wenn wir Deutschen alles das nicht hätten,
wofür es keinen deutschen Ausdruck giebt, so müßte unser geistiges und seelisches
Leben sehr arm sein. Wir haben ja auch für Humor kein entsprechendes
deutsches Wort, und schon Lessing hat sich redlich abgemüht, eins dafür zu
finden, aber die von ihm zuerst eingeführte Bezeichnung "Laune" verwirft er
in der Hamburgischen Dramaturgie doch wieder. Nun sagt freilich auch Taine
in seiner Studie über Carlyle: Oette äisxoÄüon et'ssprlt xroäuit 1'Iminour,
mot intraäuiÄbls, var 1s vdoss mens iruur"zuo. I/tmmour est 1s Zevro als
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trox aroer. Aber auch Taine ist in dem Wahne befangen, daß ein Volk nur
die Gedanken, Empfindungen und Stimmungen haben könne, für die es einen
eignen überlieferten Ausdruck hat. Er scheint sich auch nicht klar zu sein
über den Begriff Humor und vergißt, daß der Humor nicht eine allgemeine
von der Rasse abhängige Seelenstimmung ist, sondern eine rein individuelle
Anlage des Geistes und des Herzens.

Unsre Ästhetiker von Jean Paul bis Eduard von Hartmann haben ver¬
sucht, das Wesen des Humors philosophisch zu ergründen, aber zu einem
befriedigenden, für den Literarhistoriker verwertbaren Abschluß haben diese
Studien noch immer nicht geführt. Das Originellste, was ich über den Humor
gelesen habe, und was mich am meisten an Alphonse Daudets Schriften er¬
innert hat, stammt von dem geistvollen aber wenig bekannten Schopenhauericiner
Julius Bahnsen, den man als Gymnasiallehrer im äußersten Winkel von
Hinterpommern, in dem Städtchen Lauenburg, ziemlich traurig hat verkümmern
lassen. In seiner Schrift mit dem etwas abschreckenden Titel: Das Tragische


Grenzboten II 1898 25
Alphonse Daudet

mortsl, diese heftige Satire gegen die französische Akademie, und L^xlro, worin
Daudet das Leben einer modernen Manon Leseaut schildert und die Unmög¬
lichkeit nachweisen will, aus einer Kurtisane wieder ein ehrbares Wesen zu
machen. Dagegen hat sich Daudet mit seinem Roman 1,3. ?n.wi88ö (Die
kleine Kirche, ein Eheroman. Autorisirte Übersetzung von W. A. Meyer.
Deutsche Verlagsanstalt, 1896) wieder dem Leben auf dem Lande zugewandt,
aber das in diesem Roman behandelte Problem, ob eine treulose Frau wieder
die Liebe des betrogneu Gatten gewinnen könne, ist doch wenig tief auf¬
gefaßt und wenig befriedigend gelöst worden. In dem letzten Romane ist der
Verfall von Daudets schöpferischer Kraft sehr merkbar; namentlich ist ihm
eine Eigenschaft abhanden gekommen, die über die meisten seiner Schriften
einen wundervollen Zauber verbreitet, das ist der unter Thränen lachende
Humor.

Man pflegt den französischen Schriftstellern den Humor überhaupt abzu¬
sprechen, schon deshalb, weil die Franzosen keinen Ausdruck für Humor hätte».
Das ist eine von den vielen thörichten Behauptungen, die urteilslos von aller
Welt nachgesprochen werden. Wenn wir Deutschen alles das nicht hätten,
wofür es keinen deutschen Ausdruck giebt, so müßte unser geistiges und seelisches
Leben sehr arm sein. Wir haben ja auch für Humor kein entsprechendes
deutsches Wort, und schon Lessing hat sich redlich abgemüht, eins dafür zu
finden, aber die von ihm zuerst eingeführte Bezeichnung „Laune" verwirft er
in der Hamburgischen Dramaturgie doch wieder. Nun sagt freilich auch Taine
in seiner Studie über Carlyle: Oette äisxoÄüon et'ssprlt xroäuit 1'Iminour,
mot intraäuiÄbls, var 1s vdoss mens iruur«zuo. I/tmmour est 1s Zevro als
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trox aroer. Aber auch Taine ist in dem Wahne befangen, daß ein Volk nur
die Gedanken, Empfindungen und Stimmungen haben könne, für die es einen
eignen überlieferten Ausdruck hat. Er scheint sich auch nicht klar zu sein
über den Begriff Humor und vergißt, daß der Humor nicht eine allgemeine
von der Rasse abhängige Seelenstimmung ist, sondern eine rein individuelle
Anlage des Geistes und des Herzens.

Unsre Ästhetiker von Jean Paul bis Eduard von Hartmann haben ver¬
sucht, das Wesen des Humors philosophisch zu ergründen, aber zu einem
befriedigenden, für den Literarhistoriker verwertbaren Abschluß haben diese
Studien noch immer nicht geführt. Das Originellste, was ich über den Humor
gelesen habe, und was mich am meisten an Alphonse Daudets Schriften er¬
innert hat, stammt von dem geistvollen aber wenig bekannten Schopenhauericiner
Julius Bahnsen, den man als Gymnasiallehrer im äußersten Winkel von
Hinterpommern, in dem Städtchen Lauenburg, ziemlich traurig hat verkümmern
lassen. In seiner Schrift mit dem etwas abschreckenden Titel: Das Tragische


Grenzboten II 1898 25
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[0201] Alphonse Daudet mortsl, diese heftige Satire gegen die französische Akademie, und L^xlro, worin Daudet das Leben einer modernen Manon Leseaut schildert und die Unmög¬ lichkeit nachweisen will, aus einer Kurtisane wieder ein ehrbares Wesen zu machen. Dagegen hat sich Daudet mit seinem Roman 1,3. ?n.wi88ö (Die kleine Kirche, ein Eheroman. Autorisirte Übersetzung von W. A. Meyer. Deutsche Verlagsanstalt, 1896) wieder dem Leben auf dem Lande zugewandt, aber das in diesem Roman behandelte Problem, ob eine treulose Frau wieder die Liebe des betrogneu Gatten gewinnen könne, ist doch wenig tief auf¬ gefaßt und wenig befriedigend gelöst worden. In dem letzten Romane ist der Verfall von Daudets schöpferischer Kraft sehr merkbar; namentlich ist ihm eine Eigenschaft abhanden gekommen, die über die meisten seiner Schriften einen wundervollen Zauber verbreitet, das ist der unter Thränen lachende Humor. Man pflegt den französischen Schriftstellern den Humor überhaupt abzu¬ sprechen, schon deshalb, weil die Franzosen keinen Ausdruck für Humor hätte». Das ist eine von den vielen thörichten Behauptungen, die urteilslos von aller Welt nachgesprochen werden. Wenn wir Deutschen alles das nicht hätten, wofür es keinen deutschen Ausdruck giebt, so müßte unser geistiges und seelisches Leben sehr arm sein. Wir haben ja auch für Humor kein entsprechendes deutsches Wort, und schon Lessing hat sich redlich abgemüht, eins dafür zu finden, aber die von ihm zuerst eingeführte Bezeichnung „Laune" verwirft er in der Hamburgischen Dramaturgie doch wieder. Nun sagt freilich auch Taine in seiner Studie über Carlyle: Oette äisxoÄüon et'ssprlt xroäuit 1'Iminour, mot intraäuiÄbls, var 1s vdoss mens iruur«zuo. I/tmmour est 1s Zevro als enivre, «mi psut g,iQU8ör Is,8 <^ornrmn8, c!s8 1winrQ08 an I>höre1. . . . 1?0ur 1S8 MN.8 amers rg.hö 11 S8t av8^ruiZ,1)1s; no8 mort8 1s trouvsot trop Äprs se trox aroer. Aber auch Taine ist in dem Wahne befangen, daß ein Volk nur die Gedanken, Empfindungen und Stimmungen haben könne, für die es einen eignen überlieferten Ausdruck hat. Er scheint sich auch nicht klar zu sein über den Begriff Humor und vergißt, daß der Humor nicht eine allgemeine von der Rasse abhängige Seelenstimmung ist, sondern eine rein individuelle Anlage des Geistes und des Herzens. Unsre Ästhetiker von Jean Paul bis Eduard von Hartmann haben ver¬ sucht, das Wesen des Humors philosophisch zu ergründen, aber zu einem befriedigenden, für den Literarhistoriker verwertbaren Abschluß haben diese Studien noch immer nicht geführt. Das Originellste, was ich über den Humor gelesen habe, und was mich am meisten an Alphonse Daudets Schriften er¬ innert hat, stammt von dem geistvollen aber wenig bekannten Schopenhauericiner Julius Bahnsen, den man als Gymnasiallehrer im äußersten Winkel von Hinterpommern, in dem Städtchen Lauenburg, ziemlich traurig hat verkümmern lassen. In seiner Schrift mit dem etwas abschreckenden Titel: Das Tragische Grenzboten II 1898 25

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/201>, abgerufen am 23.07.2024.