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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Alphonse Daudet

Gerade dieser Roman offenbart die eigentümliche Kunst Daudets, seine
Geschichten aufzulösen in eine Reihe abgerundeter packender Genrebilder, die
scheinbar auseinanderfallen, aber doch durch ein feines Gewebe zusammen¬
gehalten werden. Gleich das erste Bild, die landwirtschaftliche Ausstellung in
Aps, auf der unser Held wie ein Fürst gefeiert wird, ist ein Kabinettstück
seiner Darstellung. Natürlich überschüttet Numa auch hier alle Welt mit
großartigen Versprechungen. Den Tambourin- und Flötenspieler Valmajour,
der auf der Ausstellung seine Künste vorträgt, fordert er auf, nach Paris zu
kommen; er werde dort sein Glück finden. Aber als dieser später wirklich in
Paris auftaucht, hat Numa natürlich alle Versprechungen vergessen. Da er¬
scheint ein andrer provenzalischer Typus, die heißblutige, mißtrauische, ehr¬
geizige Bäuerin Audiberte, Valmajours Schwester, und verlangt und ertrotzt
die Erfüllung aller Versprechungen. Der gutmütige und beschränkte Provenzale
tritt denn auch wirklich in einer Soiree bei Roumestans auf und wird gefeiert,
weil Numa vorher ein ganzes phantastisches Lügengewebe um den Flötenspieler
erdichtet hat. Valmajour wird als origineller Künstler gepriesen, aber wenn
er um seine Kunst gefragt wird, so hat er nur die eine stereotype Erklärung,
die durch den ganzen Roman wie ein Leitmotiv geht: Es ist mir in der Nacht
gekommen, als ich die Nachtigall singen hörte. Da dachte ich in meinem
Sinn: Wie, Valmajour, der kleinen Gotteskreatur genügt ihre Kehle, um all
diese Läufer und Triller hervorzubringen, und was der Vogel mit dem einen
Loch seines Schnabels fertig bringt, das solltest du mit deinen drei Löchern
auf der Flöte uicht erreichen können?

Die edelste Frauengestalt, die Daudet geschaffen hat, lebt in diesem
Romane; es ist die vortreffliche Rosalie, der nordfranzösische Typus der Rein-
heit, Wahrheit und Natürlichkeit. Sie bleibt ihrer Pflicht getreu trotz aller
Enttäuschungen über ihren südfranzösischen Gatten. as v-u-risro, äoulou
ä'on8t,av. ist ein altes provenzalisches Sprichwort: Freude aus der Gasse, Leid
am Herde. "Indem sie die Worte eins nach dein andern wie Steine in einen
Abgrund fallen ließ, wiederholte sie langsam dieses Sprichwort, womit sich
ein ganzer Menschenschlag gekennzeichnet und seinen Charakter in eine Formel
gebracht hat. Sie wiederholte es, als wollte sie den ganzen Jammer ihres
Lebens darin niederlegen: Llan as sarrisro, äoulou ä'on8eg,u." Damit schließt
dieser ausgezeichnete Roman, der am meisten den Erdgeruch, ssnisur as tsrroir,
von Daudets Heimat an sich trägt.

In den übrigen Romanen spielt Südfrankreich nur eine geringe Rolle;
ihr Schauplatz ist Paris. So in .kahle, der Geschichte eines Arbeiters, in I^o
^Ad^d, worin der Geschäftsschwiudel und die moralische Versunkenheit während
des zweiten Kaiserreichs geschildert werden, so in I-hö Rsis su sxil, einem Roman,
der uns die ganze Misere entthronter Fürstenfamilien vorführt; anch der Pro-
selytenromcm I>'IZviZ.nA's1i8t>s spielt hauptsächlich in Paris, desgleichen I/Im-


Alphonse Daudet

Gerade dieser Roman offenbart die eigentümliche Kunst Daudets, seine
Geschichten aufzulösen in eine Reihe abgerundeter packender Genrebilder, die
scheinbar auseinanderfallen, aber doch durch ein feines Gewebe zusammen¬
gehalten werden. Gleich das erste Bild, die landwirtschaftliche Ausstellung in
Aps, auf der unser Held wie ein Fürst gefeiert wird, ist ein Kabinettstück
seiner Darstellung. Natürlich überschüttet Numa auch hier alle Welt mit
großartigen Versprechungen. Den Tambourin- und Flötenspieler Valmajour,
der auf der Ausstellung seine Künste vorträgt, fordert er auf, nach Paris zu
kommen; er werde dort sein Glück finden. Aber als dieser später wirklich in
Paris auftaucht, hat Numa natürlich alle Versprechungen vergessen. Da er¬
scheint ein andrer provenzalischer Typus, die heißblutige, mißtrauische, ehr¬
geizige Bäuerin Audiberte, Valmajours Schwester, und verlangt und ertrotzt
die Erfüllung aller Versprechungen. Der gutmütige und beschränkte Provenzale
tritt denn auch wirklich in einer Soiree bei Roumestans auf und wird gefeiert,
weil Numa vorher ein ganzes phantastisches Lügengewebe um den Flötenspieler
erdichtet hat. Valmajour wird als origineller Künstler gepriesen, aber wenn
er um seine Kunst gefragt wird, so hat er nur die eine stereotype Erklärung,
die durch den ganzen Roman wie ein Leitmotiv geht: Es ist mir in der Nacht
gekommen, als ich die Nachtigall singen hörte. Da dachte ich in meinem
Sinn: Wie, Valmajour, der kleinen Gotteskreatur genügt ihre Kehle, um all
diese Läufer und Triller hervorzubringen, und was der Vogel mit dem einen
Loch seines Schnabels fertig bringt, das solltest du mit deinen drei Löchern
auf der Flöte uicht erreichen können?

Die edelste Frauengestalt, die Daudet geschaffen hat, lebt in diesem
Romane; es ist die vortreffliche Rosalie, der nordfranzösische Typus der Rein-
heit, Wahrheit und Natürlichkeit. Sie bleibt ihrer Pflicht getreu trotz aller
Enttäuschungen über ihren südfranzösischen Gatten. as v-u-risro, äoulou
ä'on8t,av. ist ein altes provenzalisches Sprichwort: Freude aus der Gasse, Leid
am Herde. „Indem sie die Worte eins nach dein andern wie Steine in einen
Abgrund fallen ließ, wiederholte sie langsam dieses Sprichwort, womit sich
ein ganzer Menschenschlag gekennzeichnet und seinen Charakter in eine Formel
gebracht hat. Sie wiederholte es, als wollte sie den ganzen Jammer ihres
Lebens darin niederlegen: Llan as sarrisro, äoulou ä'on8eg,u." Damit schließt
dieser ausgezeichnete Roman, der am meisten den Erdgeruch, ssnisur as tsrroir,
von Daudets Heimat an sich trägt.

In den übrigen Romanen spielt Südfrankreich nur eine geringe Rolle;
ihr Schauplatz ist Paris. So in .kahle, der Geschichte eines Arbeiters, in I^o
^Ad^d, worin der Geschäftsschwiudel und die moralische Versunkenheit während
des zweiten Kaiserreichs geschildert werden, so in I-hö Rsis su sxil, einem Roman,
der uns die ganze Misere entthronter Fürstenfamilien vorführt; anch der Pro-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/200>, abgerufen am 23.07.2024.