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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

sie Wegen ihrer vielgepriesenen Selbständigkeit bedauern müsse. Endlich aber
seien ihnen die Zugänge zur wahren Bildung verschlossen, sodaß sie an gewalt¬
samer Unterdrückung des edelsten Bedürfnisses litten. "Es sind nicht die
schlechtesten und geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungs¬
schreiber, in der Metamorphose der Verzweiflung, wiederfinden; ja der Geist
gewisser, jetzt*) sehr gepflegter Litteraturgattungen wäre geradezu zu charcckte-
risiren als desperates Studententum. Wie anders wäre z. B. jenes ehemals
wohlbekannte "junge Deutschland" mit seinem bis zum Augenblick fortwuchernden
Epigonentum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam wild gewvrdnes
Bildungsbedürfnis, das sich endlich selbst bis zu dem Schrei erhitzt: Ich bin
die Bildung! Dort, vor den Thoren der Gymnasien und der Universitäten,
treibt sich die aus ihm entlaufne und sich um souverän geberdcnde Kultur
dieser Anstalten herum; freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: sodaß z. V. der
Romanschreiber Gutzkow am besten als Ebenbild des modernen, bereits litte¬
rarischen Gymnasiasten zu fassen wäre. . . . Wie will man sonst unsern Ge¬
lehrten gerecht werden, wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen
Volksverführung zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch
die Annahme, daß ihre Gelehrsamkeit etwas ähnliches für sie sein möge, was
für jene die Nomanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische
Ertötung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums.
Aus unsrer entarteten litterarischen Kunst ebenso wohl als aus der ins Un¬
sinnige anschwellenden Vuchmacherei unsrer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer
hervor: Ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! O der elenden Verschuldet-
Unschuldigen! Denn ihnen fehlte etwas, was jedem von ihnen entgegenkommen
mußte, eine wahre Vilduugsinstitutiou, die ihnen Ziele, Meister, Methoden,
Vorbilder, Genossen geben konnte, und aus deren Jnnern der kräftigende und
erhebende Anhauch des wahren deutschen Geistes ans sie zuströmte." (IX, 332.
Der Geist Luthers, meint er an einer andern Stelle, sei es gewesen, den die
Regierungen in den Burschenschafter gehaßt Hütten.)

Man kann schon ans diesen Äußerungen, ohne nähere Prüfung des
Zusammenhanges, schließen, daß es nicht in einer dem deutschen Heere feind¬
seligen Gesinnung geschah, wenn er gegen die Behauptung protestirte, im
deutsch-französischen Kriege habe unsre höhere Kultur gesiegt, und wenn er
die Redensart von dem preußischen Schulmeister, der bei Sadowa gesiegt
haben sollte, unwahr und widerlich fand. Von einem Siege der deutschen
Kultur könne schon aus dem Grunde keine Rede sein, weil die französische
Kultur fortbestehe und wir von ihr nbhingen wie bisher. "Nicht einmal an
dem Waffenerfolge hat sie mitgeholfen. Strenge Kriegszucht, natürliche



") Die BortrSge: Über die Zukunft unsrer VildungSonstolten, denen diese Stelle entnommen
ist, wurden im Jahre 1872 geholten.
Friedrich Nietzsche

sie Wegen ihrer vielgepriesenen Selbständigkeit bedauern müsse. Endlich aber
seien ihnen die Zugänge zur wahren Bildung verschlossen, sodaß sie an gewalt¬
samer Unterdrückung des edelsten Bedürfnisses litten. „Es sind nicht die
schlechtesten und geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungs¬
schreiber, in der Metamorphose der Verzweiflung, wiederfinden; ja der Geist
gewisser, jetzt*) sehr gepflegter Litteraturgattungen wäre geradezu zu charcckte-
risiren als desperates Studententum. Wie anders wäre z. B. jenes ehemals
wohlbekannte »junge Deutschland« mit seinem bis zum Augenblick fortwuchernden
Epigonentum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam wild gewvrdnes
Bildungsbedürfnis, das sich endlich selbst bis zu dem Schrei erhitzt: Ich bin
die Bildung! Dort, vor den Thoren der Gymnasien und der Universitäten,
treibt sich die aus ihm entlaufne und sich um souverän geberdcnde Kultur
dieser Anstalten herum; freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: sodaß z. V. der
Romanschreiber Gutzkow am besten als Ebenbild des modernen, bereits litte¬
rarischen Gymnasiasten zu fassen wäre. . . . Wie will man sonst unsern Ge¬
lehrten gerecht werden, wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen
Volksverführung zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch
die Annahme, daß ihre Gelehrsamkeit etwas ähnliches für sie sein möge, was
für jene die Nomanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische
Ertötung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums.
Aus unsrer entarteten litterarischen Kunst ebenso wohl als aus der ins Un¬
sinnige anschwellenden Vuchmacherei unsrer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer
hervor: Ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! O der elenden Verschuldet-
Unschuldigen! Denn ihnen fehlte etwas, was jedem von ihnen entgegenkommen
mußte, eine wahre Vilduugsinstitutiou, die ihnen Ziele, Meister, Methoden,
Vorbilder, Genossen geben konnte, und aus deren Jnnern der kräftigende und
erhebende Anhauch des wahren deutschen Geistes ans sie zuströmte." (IX, 332.
Der Geist Luthers, meint er an einer andern Stelle, sei es gewesen, den die
Regierungen in den Burschenschafter gehaßt Hütten.)

Man kann schon ans diesen Äußerungen, ohne nähere Prüfung des
Zusammenhanges, schließen, daß es nicht in einer dem deutschen Heere feind¬
seligen Gesinnung geschah, wenn er gegen die Behauptung protestirte, im
deutsch-französischen Kriege habe unsre höhere Kultur gesiegt, und wenn er
die Redensart von dem preußischen Schulmeister, der bei Sadowa gesiegt
haben sollte, unwahr und widerlich fand. Von einem Siege der deutschen
Kultur könne schon aus dem Grunde keine Rede sein, weil die französische
Kultur fortbestehe und wir von ihr nbhingen wie bisher. „Nicht einmal an
dem Waffenerfolge hat sie mitgeholfen. Strenge Kriegszucht, natürliche



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/192>, abgerufen am 23.07.2024.