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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Friedrich Nietzsche

die aus Bequemlichkeit den Krieg scheuen und den Staat zu einem Werkzeuge
erniedrigen, das ihnen zur Bereicherung und zur Sicherung eines angenehmen
Lebens dienen soll. Er hält sehr viel ans leibliche Erziehung; Schönheit sei
eine durch solche erworbne Eigenschaft. Er hält allen Zwang für notwendig
und wohlthätig. Er definirt einmal die Erziehung als Gehorsam gegen den
Genius. Namentlich auch Erziehung zum richtigen Sprechen und Schreiben
fordert er und donnert gegen die heutige Sprachverwilderung und das Zeitungs¬
deutsch. Die heutige sogenannte klassische Bildung sei ja im ganzen nichts
wert. Denn erstens hätten die Philologen den Geist der Alten nicht in sich,
zweitens seien die Gymnasiasten viel zu unreif, um die alten Klassiker zu ver¬
stehen, drittens lernten die heutigen Gymnasiasten nicht einmal mehr die
schwierigern Klassiker lesen und lateinisch sprechen und schreiben, was man
früher doch wenigstens auf dem Gymnasium gelernt habe. Indes werde doch
wenigstens eine Frucht davon getragen: daß die Schüler Respekt vor Lexikon
und Grammatik lernten. Freilich, diesen Respekt der eignen Muttersprache be¬
zeugen, das könnten sie nicht lernen, weil es ihre Lehrer selbst daran fehlen
ließen; aber deren Pflicht wäre es doch gerade, den Schülern dieselbe Ehr¬
furcht vor ihrer Muttersprache beizubringen, mit der die Griechen und Römer
die ihrige behandelt hätten. Er will, daß der junge Mensch sprechen und
schreiben lerne, wie der Soldat gehen lernt. "Hier muß es jedem ernsthaft
sich Bemühenden so ergehen, wie demjenigen, der als erwachsener Mensch,
etwa als Soldat, genötigt ist, gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen
roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet,
daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich
und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem
und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und
roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürchtet, jedes Gehen verlernt zu haben und
das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus
den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und
zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit des Schrittes gestärkt
und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch,
wie schwer das Gehen ist, und darf sich über den rohen Empiriker oder über
den elegant sich geberdenden Dilettanten des Gehens lustig machen. Unsre
"elegant" genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie gehen ge¬
lernt" (IX, 263).

Ein Feind aller Anarchie, verwirft er auch das Treiben des "Jungen
Deutschlands." Aber er entschuldigt es. Einmal sei die thörichte Aufsatz¬
schreiberei auf dem Gymnasium geradezu eine Verführung zur Zeitnngs-
schreiberei und eine Vorbereitung darauf. Dann aber fehle es den Studenten
an aller vernüftigen Leitung und Erziehung; nur durch das Ohr hingen sie
mit ihren Lehrern zusammen, die sich sonst nicht um sie kümmerten, sodaß man


Friedrich Nietzsche

die aus Bequemlichkeit den Krieg scheuen und den Staat zu einem Werkzeuge
erniedrigen, das ihnen zur Bereicherung und zur Sicherung eines angenehmen
Lebens dienen soll. Er hält sehr viel ans leibliche Erziehung; Schönheit sei
eine durch solche erworbne Eigenschaft. Er hält allen Zwang für notwendig
und wohlthätig. Er definirt einmal die Erziehung als Gehorsam gegen den
Genius. Namentlich auch Erziehung zum richtigen Sprechen und Schreiben
fordert er und donnert gegen die heutige Sprachverwilderung und das Zeitungs¬
deutsch. Die heutige sogenannte klassische Bildung sei ja im ganzen nichts
wert. Denn erstens hätten die Philologen den Geist der Alten nicht in sich,
zweitens seien die Gymnasiasten viel zu unreif, um die alten Klassiker zu ver¬
stehen, drittens lernten die heutigen Gymnasiasten nicht einmal mehr die
schwierigern Klassiker lesen und lateinisch sprechen und schreiben, was man
früher doch wenigstens auf dem Gymnasium gelernt habe. Indes werde doch
wenigstens eine Frucht davon getragen: daß die Schüler Respekt vor Lexikon
und Grammatik lernten. Freilich, diesen Respekt der eignen Muttersprache be¬
zeugen, das könnten sie nicht lernen, weil es ihre Lehrer selbst daran fehlen
ließen; aber deren Pflicht wäre es doch gerade, den Schülern dieselbe Ehr¬
furcht vor ihrer Muttersprache beizubringen, mit der die Griechen und Römer
die ihrige behandelt hätten. Er will, daß der junge Mensch sprechen und
schreiben lerne, wie der Soldat gehen lernt. „Hier muß es jedem ernsthaft
sich Bemühenden so ergehen, wie demjenigen, der als erwachsener Mensch,
etwa als Soldat, genötigt ist, gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen
roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet,
daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich
und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem
und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und
roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürchtet, jedes Gehen verlernt zu haben und
das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus
den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und
zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit des Schrittes gestärkt
und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch,
wie schwer das Gehen ist, und darf sich über den rohen Empiriker oder über
den elegant sich geberdenden Dilettanten des Gehens lustig machen. Unsre
»elegant« genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie gehen ge¬
lernt" (IX, 263).

Ein Feind aller Anarchie, verwirft er auch das Treiben des „Jungen
Deutschlands." Aber er entschuldigt es. Einmal sei die thörichte Aufsatz¬
schreiberei auf dem Gymnasium geradezu eine Verführung zur Zeitnngs-
schreiberei und eine Vorbereitung darauf. Dann aber fehle es den Studenten
an aller vernüftigen Leitung und Erziehung; nur durch das Ohr hingen sie
mit ihren Lehrern zusammen, die sich sonst nicht um sie kümmerten, sodaß man


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[0191] Friedrich Nietzsche die aus Bequemlichkeit den Krieg scheuen und den Staat zu einem Werkzeuge erniedrigen, das ihnen zur Bereicherung und zur Sicherung eines angenehmen Lebens dienen soll. Er hält sehr viel ans leibliche Erziehung; Schönheit sei eine durch solche erworbne Eigenschaft. Er hält allen Zwang für notwendig und wohlthätig. Er definirt einmal die Erziehung als Gehorsam gegen den Genius. Namentlich auch Erziehung zum richtigen Sprechen und Schreiben fordert er und donnert gegen die heutige Sprachverwilderung und das Zeitungs¬ deutsch. Die heutige sogenannte klassische Bildung sei ja im ganzen nichts wert. Denn erstens hätten die Philologen den Geist der Alten nicht in sich, zweitens seien die Gymnasiasten viel zu unreif, um die alten Klassiker zu ver¬ stehen, drittens lernten die heutigen Gymnasiasten nicht einmal mehr die schwierigern Klassiker lesen und lateinisch sprechen und schreiben, was man früher doch wenigstens auf dem Gymnasium gelernt habe. Indes werde doch wenigstens eine Frucht davon getragen: daß die Schüler Respekt vor Lexikon und Grammatik lernten. Freilich, diesen Respekt der eignen Muttersprache be¬ zeugen, das könnten sie nicht lernen, weil es ihre Lehrer selbst daran fehlen ließen; aber deren Pflicht wäre es doch gerade, den Schülern dieselbe Ehr¬ furcht vor ihrer Muttersprache beizubringen, mit der die Griechen und Römer die ihrige behandelt hätten. Er will, daß der junge Mensch sprechen und schreiben lerne, wie der Soldat gehen lernt. „Hier muß es jedem ernsthaft sich Bemühenden so ergehen, wie demjenigen, der als erwachsener Mensch, etwa als Soldat, genötigt ist, gehen zu lernen, nachdem er vorher im Gehen roher Dilettant und Empiriker war. Es sind mühselige Monate: man fürchtet, daß die Sehnen reißen möchten, man verliert alle Hoffnung, daß die künstlich und bewußt erlernten Bewegungen und Stellungen der Füße jemals bequem und leicht ausgeführt werden: man sieht mit Schrecken, wie ungeschickt und roh man Fuß vor Fuß setzt, und fürchtet, jedes Gehen verlernt zu haben und das rechte Gehen nie zu lernen. Und plötzlich wiederum merkt man, daß aus den künstlich eingeübten Bewegungen bereits wieder eine neue Gewohnheit und zweite Natur geworden ist, und daß die alte Sicherheit des Schrittes gestärkt und selbst mit einiger Grazie im Gefolge zurückkehrt: jetzt weiß man auch, wie schwer das Gehen ist, und darf sich über den rohen Empiriker oder über den elegant sich geberdenden Dilettanten des Gehens lustig machen. Unsre »elegant« genannten Schriftsteller haben, wie ihr Stil beweist, nie gehen ge¬ lernt" (IX, 263). Ein Feind aller Anarchie, verwirft er auch das Treiben des „Jungen Deutschlands." Aber er entschuldigt es. Einmal sei die thörichte Aufsatz¬ schreiberei auf dem Gymnasium geradezu eine Verführung zur Zeitnngs- schreiberei und eine Vorbereitung darauf. Dann aber fehle es den Studenten an aller vernüftigen Leitung und Erziehung; nur durch das Ohr hingen sie mit ihren Lehrern zusammen, die sich sonst nicht um sie kümmerten, sodaß man

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/191>, abgerufen am 23.07.2024.