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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Joseph Lhamberlain

wagte niemand ihm den Kabinettrang streitig zu machen, und Gladstone, der
nun aus seiner Zurückgezogenheit wieder in die Arena trat, nahm ihn als
Präsidenten des Handelsamts in sein Ministerium. Gladstones Rückkehr zu
den Geschäften war kein glücklicher Schritt. Er konnte die reformatorischen
Thaten seines ersten Ministeriums nicht wiederholen, und den beginnenden
Zerfall der liberalen Partei vermochte er ebenso wenig aufzuhalten. Die
Periode der konstitutionellen Neuerungen war vorüber, aber für soziale Re¬
formen, wie sie die neue Zeit erheischte, war die liberale Partei nicht geschaffen,
weil sie sich von den Grundsätzen des Manchestertums nicht lossagen konnte.
Gladstones Führerschaft hielt zwar die Radikalen noch bei den Liberalen, aber
die radikale Vertretung im Kabinett war eher ein Element der Schwäche als
der Stärke, da Chamberlain sich nicht in den Hintergrund drängen ließ,
und die Politik der neuen Regierung dadurch der Einheitlichkeit beraubt
wurde.

Um Chamberlains Laufbahn zu verstehen, ist es nötig festzuhalten, daß
er, welcher Partei er auch angehören mag, in erster Linie Chamberlain ist
und nur in zweiter Parteimann. Er war radikal in seinen Grundanschauungen,
und sein Radikalismus war auf derselben trügerischen Grundlage aufgebaut
wie der seiner Parteigenossen. Er glaubte an Rousseaus Ooiirrg-t 8voig.1, von
dem die historische Wissenschaft nichts weiß, und sah in der von ihm angestrebten
Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen eine Rückkehr zu den Zustünden
einer glücklichen Kindheit des menschlichen Geschlechts. Er war auch Manchester¬
mann, aber, und hier kommt Chamberlain zum Durchbruch, er war kein
Prinzipienreiter, sondern ein praktischer Mann, der im Sturme auch ein paar
untergeordnete Sätze seines Programms über Bord wirft, wenn er damit sein
Schiff und den Rest der Ladung in den Hafen bringen kann. Das geopferte
Gut kann ja später bei Gelegenheit wieder aufgefischt werden.

Als Geschäftsmann, der mit den Dingen handeln muß, wie sie sind, uicht
wie sie sein sollten, erkannte er auch, daß die Große des britischen Reichs
und sein Wohlstand auf dem Handel beruht, und daß die Kolonien als Absatz¬
gebiete für das Mutterland um so bedeutender werden, je mehr andre Nationen
im internationalen Wettbewerb vorankommen. Ihm blieb nicht verborgen, daß
das britische Gewerbe- und Handelsmonopol einer vergangnen Zeit angehört.
Die Verbesserung der Lage der britischen Arbeiter aber ist nur möglich, wenn
der britische Gewerbfleiß seine Erzeugnisse absetzen und die britische Flotte den
Handel schützen kann. So kam er, ungleich andern Radikalen, zu dem folge¬
richtigen Schlüsse, daß radikale Ziele mit imperialistischen Bestrebungen sehr
wohl vereinbar seien. So ist es gekommen, daß der Radikale Chamberlain
heute für Flottenvermehrung und Kolonien eintritt wie nur ein Jingo. Es
wird noch lange dauern, bis unsre deutschen Radikalen zu gleichem Schlüsse
gelangen.


Joseph Lhamberlain

wagte niemand ihm den Kabinettrang streitig zu machen, und Gladstone, der
nun aus seiner Zurückgezogenheit wieder in die Arena trat, nahm ihn als
Präsidenten des Handelsamts in sein Ministerium. Gladstones Rückkehr zu
den Geschäften war kein glücklicher Schritt. Er konnte die reformatorischen
Thaten seines ersten Ministeriums nicht wiederholen, und den beginnenden
Zerfall der liberalen Partei vermochte er ebenso wenig aufzuhalten. Die
Periode der konstitutionellen Neuerungen war vorüber, aber für soziale Re¬
formen, wie sie die neue Zeit erheischte, war die liberale Partei nicht geschaffen,
weil sie sich von den Grundsätzen des Manchestertums nicht lossagen konnte.
Gladstones Führerschaft hielt zwar die Radikalen noch bei den Liberalen, aber
die radikale Vertretung im Kabinett war eher ein Element der Schwäche als
der Stärke, da Chamberlain sich nicht in den Hintergrund drängen ließ,
und die Politik der neuen Regierung dadurch der Einheitlichkeit beraubt
wurde.

Um Chamberlains Laufbahn zu verstehen, ist es nötig festzuhalten, daß
er, welcher Partei er auch angehören mag, in erster Linie Chamberlain ist
und nur in zweiter Parteimann. Er war radikal in seinen Grundanschauungen,
und sein Radikalismus war auf derselben trügerischen Grundlage aufgebaut
wie der seiner Parteigenossen. Er glaubte an Rousseaus Ooiirrg-t 8voig.1, von
dem die historische Wissenschaft nichts weiß, und sah in der von ihm angestrebten
Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen eine Rückkehr zu den Zustünden
einer glücklichen Kindheit des menschlichen Geschlechts. Er war auch Manchester¬
mann, aber, und hier kommt Chamberlain zum Durchbruch, er war kein
Prinzipienreiter, sondern ein praktischer Mann, der im Sturme auch ein paar
untergeordnete Sätze seines Programms über Bord wirft, wenn er damit sein
Schiff und den Rest der Ladung in den Hafen bringen kann. Das geopferte
Gut kann ja später bei Gelegenheit wieder aufgefischt werden.

Als Geschäftsmann, der mit den Dingen handeln muß, wie sie sind, uicht
wie sie sein sollten, erkannte er auch, daß die Große des britischen Reichs
und sein Wohlstand auf dem Handel beruht, und daß die Kolonien als Absatz¬
gebiete für das Mutterland um so bedeutender werden, je mehr andre Nationen
im internationalen Wettbewerb vorankommen. Ihm blieb nicht verborgen, daß
das britische Gewerbe- und Handelsmonopol einer vergangnen Zeit angehört.
Die Verbesserung der Lage der britischen Arbeiter aber ist nur möglich, wenn
der britische Gewerbfleiß seine Erzeugnisse absetzen und die britische Flotte den
Handel schützen kann. So kam er, ungleich andern Radikalen, zu dem folge¬
richtigen Schlüsse, daß radikale Ziele mit imperialistischen Bestrebungen sehr
wohl vereinbar seien. So ist es gekommen, daß der Radikale Chamberlain
heute für Flottenvermehrung und Kolonien eintritt wie nur ein Jingo. Es
wird noch lange dauern, bis unsre deutschen Radikalen zu gleichem Schlüsse
gelangen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/166>, abgerufen am 23.07.2024.