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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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Die niederdeutsche Frage in Belgien und Südafrika

Visher ist aber dem kaiserlichen Telegramm kein sichtbares Zeichen der Zurück¬
weisung der englischen Umtriebe gefolgt. Herrn von Marschalls hierzu gegebne
Erläuterung glich dem französischen Standpunkte, der bloß südafrikanische
Handelsinteressen, aber keine nationalen Ziele von schwerwiegender Bedeutung
vertritt.

Es ist die einfache Frage, ob nach der Wiederaufrichtung des Deutschen
Reichs und dem Beginn einer entsprechenden Kolonialpolitik das ehemals in
Südafrika herrschende deutsche Volkstum dem englischen Einfluß gänzlich ver¬
fallen und wie in Nordamerika von dem angelsächsischen Stamme aufgesogen
werden soll, oder ob das Reich die Kraft und den Willen hat, seine Volks¬
genossen vor diesem Schicksal zu bewahren. Nur dann würde die Gründung
des Reichs den erwarteten Vorteil für das Deutschtum im Auslande haben,
da in der Zeit der deutschen Ohnmacht und Zerrissenheit das wehrlose Vater¬
land auch weiter nichts verbrochen hat, als daß es sich nicht um seine Glieder
im Auslande gekümmert hat. Diese schmähliche Rolle darf man aber wohl dem
neuen Reiche nicht zumuten. Was nützten uns nach der Annahme der Marine¬
vorlage die schönsten Kreuzer, wenn wir unsre nationalen Interessen nicht mit
dem genügenden Nachdruck vertreten wollten! Durch unsre Kriegsflotte und
durch unsre Politik, hinter der das mächtigste Landheer der Welt steht, können
wir unsre nationalen Zwecke erfüllen, deren einer und nicht der geringste die
Lösung der niederdeutschen Frage im Sinne eines kräftigen Schutzes des von
Frankreich und England bedrohten stammesgleichen Volkstums ist. Weder
England noch Frankreich wollen offiziell die Anstifter sein. Auch wir bedürfen
keiner offiziellen Mittel. Aber die Regierung muß nach dem fremden Muster
handeln.

Was nützt alles Jammern über eine treulose Politik, und was nützt das
zweifelhafte Lob der Aufrichtigkeit, wenn sich Frankreich und England vergnügt
über die Harmlosigkeit des deutschen Michels die Hände reiben, und ihre Ge¬
schäfte den gewünschten Fortgang in den gedachten niederdeutschen Landen
Europas und Afrikas nehmen? Freilich müssen die Maßnahmen der Negie¬
rung auch von der öffentlichen Meinung mit voller Überzeugung getragen
werden, wie sie Bismarck für die Kolonialpolitik verlangte. Selbst die Arbeit
der Kolonialpraktiker verzettelt sich zu sehr in theoretischer Erörterung und
beschränkt sich auf unsre Schutzgebiete, deren baldige wirtschaftliche Erschließung
ja sehr wünschenswert ist, aber doch nicht der Schwerpunkt einer Auslandspvlitik
zum Schutze unsers auswärtigen Volkstums sein kann. Man hat Frankreich vor¬
geworfen, daß der Rachegedanke seine Politik versteinere; trotzdem hat es aber
seit 1871 ein gewaltiges Kolonialreich geschaffen. Was haben wir im Ver¬
gleich hierzu gethan? Die Angst vor europäischen Verwicklungen bannt uns
an die Stelle und verhindert jeden kühnen Aufschwung trotz des verlockenden
englischen und französischen Beispiels.


Die niederdeutsche Frage in Belgien und Südafrika

Visher ist aber dem kaiserlichen Telegramm kein sichtbares Zeichen der Zurück¬
weisung der englischen Umtriebe gefolgt. Herrn von Marschalls hierzu gegebne
Erläuterung glich dem französischen Standpunkte, der bloß südafrikanische
Handelsinteressen, aber keine nationalen Ziele von schwerwiegender Bedeutung
vertritt.

Es ist die einfache Frage, ob nach der Wiederaufrichtung des Deutschen
Reichs und dem Beginn einer entsprechenden Kolonialpolitik das ehemals in
Südafrika herrschende deutsche Volkstum dem englischen Einfluß gänzlich ver¬
fallen und wie in Nordamerika von dem angelsächsischen Stamme aufgesogen
werden soll, oder ob das Reich die Kraft und den Willen hat, seine Volks¬
genossen vor diesem Schicksal zu bewahren. Nur dann würde die Gründung
des Reichs den erwarteten Vorteil für das Deutschtum im Auslande haben,
da in der Zeit der deutschen Ohnmacht und Zerrissenheit das wehrlose Vater¬
land auch weiter nichts verbrochen hat, als daß es sich nicht um seine Glieder
im Auslande gekümmert hat. Diese schmähliche Rolle darf man aber wohl dem
neuen Reiche nicht zumuten. Was nützten uns nach der Annahme der Marine¬
vorlage die schönsten Kreuzer, wenn wir unsre nationalen Interessen nicht mit
dem genügenden Nachdruck vertreten wollten! Durch unsre Kriegsflotte und
durch unsre Politik, hinter der das mächtigste Landheer der Welt steht, können
wir unsre nationalen Zwecke erfüllen, deren einer und nicht der geringste die
Lösung der niederdeutschen Frage im Sinne eines kräftigen Schutzes des von
Frankreich und England bedrohten stammesgleichen Volkstums ist. Weder
England noch Frankreich wollen offiziell die Anstifter sein. Auch wir bedürfen
keiner offiziellen Mittel. Aber die Regierung muß nach dem fremden Muster
handeln.

Was nützt alles Jammern über eine treulose Politik, und was nützt das
zweifelhafte Lob der Aufrichtigkeit, wenn sich Frankreich und England vergnügt
über die Harmlosigkeit des deutschen Michels die Hände reiben, und ihre Ge¬
schäfte den gewünschten Fortgang in den gedachten niederdeutschen Landen
Europas und Afrikas nehmen? Freilich müssen die Maßnahmen der Negie¬
rung auch von der öffentlichen Meinung mit voller Überzeugung getragen
werden, wie sie Bismarck für die Kolonialpolitik verlangte. Selbst die Arbeit
der Kolonialpraktiker verzettelt sich zu sehr in theoretischer Erörterung und
beschränkt sich auf unsre Schutzgebiete, deren baldige wirtschaftliche Erschließung
ja sehr wünschenswert ist, aber doch nicht der Schwerpunkt einer Auslandspvlitik
zum Schutze unsers auswärtigen Volkstums sein kann. Man hat Frankreich vor¬
geworfen, daß der Rachegedanke seine Politik versteinere; trotzdem hat es aber
seit 1871 ein gewaltiges Kolonialreich geschaffen. Was haben wir im Ver¬
gleich hierzu gethan? Die Angst vor europäischen Verwicklungen bannt uns
an die Stelle und verhindert jeden kühnen Aufschwung trotz des verlockenden
englischen und französischen Beispiels.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/125>, abgerufen am 23.07.2024.