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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr.

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zuhalten. Schon die Truppe, die seit undenklicher Zeit keinen Krieg mehr
gesehen hatte und seit Jahren zum Polizeidienst verwendet worden war, war
ungeeignet. Ihre Ober- und Unterführer kannten seit langer Zeit den Begriff
von Manövern nur noch vom Hörensagen her; dazu waren die deutlichsten
Zeichen von Disziplinlosigkeit unter den Mannschaften und noch mehr unter
den Offizieren hervorgetreten, die selbst gegen den Kronprinzen revoltirten --
alle diese Übelstände mußten gänzlich davon abhalten, mit diesem Heere irgend
etwas zu unternehmen, ehe es durch den Krieg selbst zu einem brauchbaren
Werkzeuge ausgebildet worden war. Den Griechen gegenüber standen türkische
Truppen, deren Offiziere zum Teil noch den großen russischen Feldzug von
1877 -- 78 mitgemacht hatten, und deren Mannschaften großenteils gestählt
waren durch die Kämpfe im Hauran, gegen Zeitun und in Armenien. Rechnet
man nun dazu, daß die Türkei schon Ende März 1897 etwa 100000 Mann
an der griechischen Grenze stehen hatte, während Griechenland bis dahin kaum
50000 Mann aufstellen konnte, so wird es vollkommen unbegreiflich, wie man
griechischerseits damals an einen Angriff des Landheeres noch denken konnte,
ja selbst nur an eine Verteidigung des ganzen eignen Gebietes. Und doch
stellten die Griechen ihre Truppen in Thessalien mit dem Hauptquartier in
Larissa derartig auf, daß an dieser ihrer Absicht nicht zu zweifeln war.

Ein einziger Blick in die jüngste Kriegsgeschichte hätte die Griechen be¬
lehren können, was bei einer derartigen Sachlage Hütte geschehe" müssen. Bei
der Überlegenheit an Zahl und Güte der Truppen war den Türken unbedingt
die Offensive zu Land zu überlassen. "Jede Offensive, sagt Goltz, hat im Gegen¬
satz zur Defensive einen Kulminationspunkt, wo die anfängliche Überlegenheit
durch die natürliche Schwächung auf einen Stand geraten ist, daß sie zum
Siege eben noch ausgereicht hat, aber künftig keinen Erfolg mehr verbürgt.
Tritt der Kulminationspunkt zu früh, d. h. vor Sicherstellung des gewünschten
Friedens ein, so erfolgt der Rückschlag, der dann weit heftiger wird als die
Wirkuug einer Niederlage in der Verteidigung." Von 160000 Mann brachte
Rußland 1829 bis nach Adrianopel 20000; von 400000 brachte es 1878
kaum 100000 bis vor die Thore von Konstantinopel. Wieviel hätte also
wohl Ebben Pascha von seinen 100000 Mann durch das fürchterliche Gebirgs-
land von Griechenland ans Makedonien bis nach Athen gebracht; vielleicht
12 bis 25000 Mann. Wenn aber die Griechen in neuerer Kriegsgeschichte
minder bewandert zu sein scheinen, so durften sie ja nur sich ihrer glorreichen
alten Geschichte erinnern, in der sie so gern schwelgen, jedoch, wie es scheint,
ohne aus ihr zu lernen. Wie außerordentlich mußte das von Darms entsandte
mächtige Heer zusammengeschmolzen sein, bis es nach Attika kam, um von
Miltiades bei Marathon geschlagen werden zu können! Und was blieb denn
von dem Heere des Xerxes in Griechenland noch übrig nach der Vernichtung
seiner Flotte bei Salamis? Und was folgte nach? Der Übergang der Griechen


zuhalten. Schon die Truppe, die seit undenklicher Zeit keinen Krieg mehr
gesehen hatte und seit Jahren zum Polizeidienst verwendet worden war, war
ungeeignet. Ihre Ober- und Unterführer kannten seit langer Zeit den Begriff
von Manövern nur noch vom Hörensagen her; dazu waren die deutlichsten
Zeichen von Disziplinlosigkeit unter den Mannschaften und noch mehr unter
den Offizieren hervorgetreten, die selbst gegen den Kronprinzen revoltirten —
alle diese Übelstände mußten gänzlich davon abhalten, mit diesem Heere irgend
etwas zu unternehmen, ehe es durch den Krieg selbst zu einem brauchbaren
Werkzeuge ausgebildet worden war. Den Griechen gegenüber standen türkische
Truppen, deren Offiziere zum Teil noch den großen russischen Feldzug von
1877 — 78 mitgemacht hatten, und deren Mannschaften großenteils gestählt
waren durch die Kämpfe im Hauran, gegen Zeitun und in Armenien. Rechnet
man nun dazu, daß die Türkei schon Ende März 1897 etwa 100000 Mann
an der griechischen Grenze stehen hatte, während Griechenland bis dahin kaum
50000 Mann aufstellen konnte, so wird es vollkommen unbegreiflich, wie man
griechischerseits damals an einen Angriff des Landheeres noch denken konnte,
ja selbst nur an eine Verteidigung des ganzen eignen Gebietes. Und doch
stellten die Griechen ihre Truppen in Thessalien mit dem Hauptquartier in
Larissa derartig auf, daß an dieser ihrer Absicht nicht zu zweifeln war.

Ein einziger Blick in die jüngste Kriegsgeschichte hätte die Griechen be¬
lehren können, was bei einer derartigen Sachlage Hütte geschehe» müssen. Bei
der Überlegenheit an Zahl und Güte der Truppen war den Türken unbedingt
die Offensive zu Land zu überlassen. „Jede Offensive, sagt Goltz, hat im Gegen¬
satz zur Defensive einen Kulminationspunkt, wo die anfängliche Überlegenheit
durch die natürliche Schwächung auf einen Stand geraten ist, daß sie zum
Siege eben noch ausgereicht hat, aber künftig keinen Erfolg mehr verbürgt.
Tritt der Kulminationspunkt zu früh, d. h. vor Sicherstellung des gewünschten
Friedens ein, so erfolgt der Rückschlag, der dann weit heftiger wird als die
Wirkuug einer Niederlage in der Verteidigung." Von 160000 Mann brachte
Rußland 1829 bis nach Adrianopel 20000; von 400000 brachte es 1878
kaum 100000 bis vor die Thore von Konstantinopel. Wieviel hätte also
wohl Ebben Pascha von seinen 100000 Mann durch das fürchterliche Gebirgs-
land von Griechenland ans Makedonien bis nach Athen gebracht; vielleicht
12 bis 25000 Mann. Wenn aber die Griechen in neuerer Kriegsgeschichte
minder bewandert zu sein scheinen, so durften sie ja nur sich ihrer glorreichen
alten Geschichte erinnern, in der sie so gern schwelgen, jedoch, wie es scheint,
ohne aus ihr zu lernen. Wie außerordentlich mußte das von Darms entsandte
mächtige Heer zusammengeschmolzen sein, bis es nach Attika kam, um von
Miltiades bei Marathon geschlagen werden zu können! Und was blieb denn
von dem Heere des Xerxes in Griechenland noch übrig nach der Vernichtung
seiner Flotte bei Salamis? Und was folgte nach? Der Übergang der Griechen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_227635/115>, abgerufen am 23.07.2024.