Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Die Bibel Menschen vermögen in Hunger, Frost und Krankheit Psalmen anzustimmen; Solchen, die für einen höhern Trost empfänglich sind, predigt der Ver¬ Die Bibel Menschen vermögen in Hunger, Frost und Krankheit Psalmen anzustimmen; Solchen, die für einen höhern Trost empfänglich sind, predigt der Ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0711" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227613"/> <fw type="header" place="top"> Die Bibel</fw><lb/> <p xml:id="ID_2503" prev="#ID_2502"> Menschen vermögen in Hunger, Frost und Krankheit Psalmen anzustimmen;<lb/> sür den gewöhnlichen Menschen ist in einem körperlich unbehaglichen Zustande<lb/> ein Evangelium, das keine leibliche Hilfe bringt, so wenig vorhanden wie etwa<lb/> eine Symphonie; oder geht wohl jemand, der an heftigen Zahnschmerzen leidet,<lb/> ins Konzert?</p><lb/> <p xml:id="ID_2504" next="#ID_2505"> Solchen, die für einen höhern Trost empfänglich sind, predigt der Ver¬<lb/> fasser des Buches der Weisheit. Er polemisirt gegen den Koheleth, ohne ihn<lb/> zu nennen, wie der Jakobusbrief gegen den Nömerbrief polemisirt, nicht um<lb/> das Buch selbst als verderblich zu verwerfen, sondern nur um davor zu warnen,<lb/> daß man sich nicht durch einzelne Aussprüche des Buches in das Lager jener<lb/> schlimmen Epitureer verlocken lasse, die auch nicht einmal echte Jünger Epikurs<lb/> waren. Kurz ist unser Leben, lasset uns also genießen und fröhlich sein, das<lb/> hatten allerdings sowohl Epikur als der Prediger gesagt, aber lasset uns den<lb/> gerechten Armen unterdrücken, schonen wir nicht der Witwe, und achten wir<lb/> nicht der Weißen Haare des Greises, das hat Epikur nicht gesagt, und der<lb/> Prediger hat ausdrücklich vor Frevel gewarnt. Aus dem deutlichen Hinweis<lb/> auf den Prediger darf man schließen, daß er nicht lange vor dem Buche der<lb/> Weisheit geschrieben sein mag; dieses aber gehört dem zweiten vorchristlichen<lb/> Jahrhundert an. Wenn sich die Verfasser beider Bücher in die Person Salomos<lb/> verkleiden, so beabsichtigen sie damit keinen litterarischen Betrug. Die eigentlich<lb/> redende Person ist in beiden Büchern die göttliche Weisheit, als deren voll¬<lb/> kommenste Verkörperung den Juden ihr glorreichster König galt. Im Gegen¬<lb/> satz zu Hiob, der vor dem Welträtsel in Ehrfurcht verstummt, und zum Prediger,<lb/> der Lösungsversuche als eine unnütze Plage abweist, giebt der Verfasser des<lb/> jüngsten dieser philosophischen Werke eine positive Antwort, die darin besteht,<lb/> daß das irdische Leben nur eine Vorbereitung auf ein jenseitiges, vollkommnes,<lb/> ewiges Leben sei. Schon in einigen Psalmen und in einigen Stellen des<lb/> Buches Hiob wagt sich der Gedanke der Unsterblichkeit, als Erzeugnis einer<lb/> tiefen Sehnsucht, schüchtern hervor; der Prediger findet ihn keiner Beachtung<lb/> wert, ja er scheint ausdrücklich sagen zu wollen, daß die Seele mit dem Leibe<lb/> zu Grunde gehe; das Buch der Weisheit aber lehrt die persönliche Fortdauer<lb/> der Seele und das Gericht nach dem Tode klar und bestimmt. Der Mate¬<lb/> rialismus wird ausführlich widerlegt, der Triumph der auferstcindnen Gerechten<lb/> über ihre ehemaligen Verfolger und Unterdrücker in den lebhaftesten Farben<lb/> geschildert. Sowohl die Leugnung Gottes als auch der Polytheismus werden<lb/> als Wirkungen eines verdorbnen oder wenigstens von der Sinnlichkeit in den<lb/> Staub gezognen Gemüts dargestellt: der verwesliche Leib beschwert die Seele;<lb/> in eine böse Seele geht die Weisheit nicht ein und wohnt nicht in einem der<lb/> Sünde ergebner Leibe; so trennen verkehrte Gedanken von Gott; deshalb haben<lb/> auch die Kananiter mit ihren ruchlosen Götzendiensten, als ein Hindernis reiner<lb/> Gvtteserkenntnis, ausgerottet werden müssen. Die Naturanbetung findet der<lb/> Verfasser, als eine Verirrung kindlicher Gemüter, verzeihlich; sie seien eben von<lb/> der Schönheit und Größe der Naturerscheinungen: des Feuers, des vom<lb/> Sturmwind bewegten Luftkreises, des Meeres, des Sternenhimmels, der Sonne,<lb/> des Mondes überwältigt worden; freilich hätten sie bedenken sollen, daß alle<lb/> Pracht und Macht dieser Erscheinungen auf ein geistiges Wesen als ihren Ur¬<lb/> heber hinweise, und daß dieser mächtiger und herrlicher sein müsse als seine<lb/> Geschöpfe. Ganz unverzeihlich aber findet er es, wenn man ein von Menschen¬<lb/> händen geschnitztes Bild anbetet, wozu der Künstler den Nest eines Baum-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0711]
Die Bibel
Menschen vermögen in Hunger, Frost und Krankheit Psalmen anzustimmen;
sür den gewöhnlichen Menschen ist in einem körperlich unbehaglichen Zustande
ein Evangelium, das keine leibliche Hilfe bringt, so wenig vorhanden wie etwa
eine Symphonie; oder geht wohl jemand, der an heftigen Zahnschmerzen leidet,
ins Konzert?
Solchen, die für einen höhern Trost empfänglich sind, predigt der Ver¬
fasser des Buches der Weisheit. Er polemisirt gegen den Koheleth, ohne ihn
zu nennen, wie der Jakobusbrief gegen den Nömerbrief polemisirt, nicht um
das Buch selbst als verderblich zu verwerfen, sondern nur um davor zu warnen,
daß man sich nicht durch einzelne Aussprüche des Buches in das Lager jener
schlimmen Epitureer verlocken lasse, die auch nicht einmal echte Jünger Epikurs
waren. Kurz ist unser Leben, lasset uns also genießen und fröhlich sein, das
hatten allerdings sowohl Epikur als der Prediger gesagt, aber lasset uns den
gerechten Armen unterdrücken, schonen wir nicht der Witwe, und achten wir
nicht der Weißen Haare des Greises, das hat Epikur nicht gesagt, und der
Prediger hat ausdrücklich vor Frevel gewarnt. Aus dem deutlichen Hinweis
auf den Prediger darf man schließen, daß er nicht lange vor dem Buche der
Weisheit geschrieben sein mag; dieses aber gehört dem zweiten vorchristlichen
Jahrhundert an. Wenn sich die Verfasser beider Bücher in die Person Salomos
verkleiden, so beabsichtigen sie damit keinen litterarischen Betrug. Die eigentlich
redende Person ist in beiden Büchern die göttliche Weisheit, als deren voll¬
kommenste Verkörperung den Juden ihr glorreichster König galt. Im Gegen¬
satz zu Hiob, der vor dem Welträtsel in Ehrfurcht verstummt, und zum Prediger,
der Lösungsversuche als eine unnütze Plage abweist, giebt der Verfasser des
jüngsten dieser philosophischen Werke eine positive Antwort, die darin besteht,
daß das irdische Leben nur eine Vorbereitung auf ein jenseitiges, vollkommnes,
ewiges Leben sei. Schon in einigen Psalmen und in einigen Stellen des
Buches Hiob wagt sich der Gedanke der Unsterblichkeit, als Erzeugnis einer
tiefen Sehnsucht, schüchtern hervor; der Prediger findet ihn keiner Beachtung
wert, ja er scheint ausdrücklich sagen zu wollen, daß die Seele mit dem Leibe
zu Grunde gehe; das Buch der Weisheit aber lehrt die persönliche Fortdauer
der Seele und das Gericht nach dem Tode klar und bestimmt. Der Mate¬
rialismus wird ausführlich widerlegt, der Triumph der auferstcindnen Gerechten
über ihre ehemaligen Verfolger und Unterdrücker in den lebhaftesten Farben
geschildert. Sowohl die Leugnung Gottes als auch der Polytheismus werden
als Wirkungen eines verdorbnen oder wenigstens von der Sinnlichkeit in den
Staub gezognen Gemüts dargestellt: der verwesliche Leib beschwert die Seele;
in eine böse Seele geht die Weisheit nicht ein und wohnt nicht in einem der
Sünde ergebner Leibe; so trennen verkehrte Gedanken von Gott; deshalb haben
auch die Kananiter mit ihren ruchlosen Götzendiensten, als ein Hindernis reiner
Gvtteserkenntnis, ausgerottet werden müssen. Die Naturanbetung findet der
Verfasser, als eine Verirrung kindlicher Gemüter, verzeihlich; sie seien eben von
der Schönheit und Größe der Naturerscheinungen: des Feuers, des vom
Sturmwind bewegten Luftkreises, des Meeres, des Sternenhimmels, der Sonne,
des Mondes überwältigt worden; freilich hätten sie bedenken sollen, daß alle
Pracht und Macht dieser Erscheinungen auf ein geistiges Wesen als ihren Ur¬
heber hinweise, und daß dieser mächtiger und herrlicher sein müsse als seine
Geschöpfe. Ganz unverzeihlich aber findet er es, wenn man ein von Menschen¬
händen geschnitztes Bild anbetet, wozu der Künstler den Nest eines Baum-
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