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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Die Bibel

gegen diese Ungerechtigkeit aufbäumt und sein Los verflucht; nur daß aus
seinem Herzen der Glaube an eine vernünftige und gerechte Weltordnung und
Weltleitung nicht völlig schwinden und in ruhigern Augenblicken das Ver¬
trauen auf den Gott, dessen"Wesen und Wege wir nun einmal nicht begreifen
können, zurückkehren soll. Übrigens verdient es Beachtung, daß sowohl in
den Anklagen der Freunde wie in den Verteidigungsreden Hiobs als das
Wesen der von Gott geforderten Gerechtigkeit, ebenso wie im mosaischen Gesetz
und in den Prophetenbüchern, immer wieder die Mildthätigkeit und Barm¬
herzigkeit,*) der Schutz der Schwachen und Unterdrückten hervorgehoben wird:
"Ich errettete den Armen, der da schrie, und die Waise, die keinen Helfer
hatte. Der dem Untergang Nahe segnete mich, und das Herz der Witwe habe
ich getröstet. Auge war ich dem Blinden, und Fuß dem Lahmen. Mit Ge¬
rechtigkeit bin ich angethan wie mit einem Gewände, und das Gericht war
mein Diadem; ich war ein Vater der Armen und erforschte auf das genaueste
ihre Klagesachen; ich zerbrach die Backenzähne des Ungerechten und riß ihm
den Raub aus den Zähnen. Wann hätte ich jemals meinen Bissen allein ge¬
gessen?"

Es ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen, daß ein so leicht ver¬
ständliches, so packendes Buch wie die Bibel vorübergehend Fetisch und Zauber¬
buch werdeu kann, das mau liest, um es zu verehren und damit eine Gott
gefällige Handlung zu verrichten, aber ohne sich etwas dabei zu denken. So
müssen die Engländer, die bekanntlich bis auf deu heutigen Tag fleißige Bibel¬
leser sind, die Bibel behandelt haben in der Zeit der Ärmenhauskiudergreuel.
Zugleich aber hat es sich da gezeigt, daß die Bibel selbst bei einer solchen
Verfassung des Volksgeistes noch ein unermeßliches Gut bleibt, dessen ver¬
borgne Kraft bei Gelegenheit wieder hervorbricht; Fabrikbesitzer, die da be¬
kannten, daß sie in der Bibel ihre Verdammnis gelesen hätten, wurden Owens
Helfer und leiteten mit diesem die Besserung ein. Auch ohne den philoso¬
phischen Gehalt würde das Buch Hiob wegen seiner großartigen Naturschilde¬
rungen und erschütternden Klagen ein Werk von großem litterarischem Wert
sein. Das Ergebnis seiner Philosophie ist positiv nur insofern, als sie den
Glauben an Gott festhält und das Vertrauen auf ihn stärkt, in Beziehung auf
die Erkenntnis aber negativ. Dasselbe gilt vom Buche Koheleth. Man hat
dieses merkwürdige Erzeugnis eines vielerfahrnen, kritischen, kühl verständigen
Geistes epiknreisch gescholten. Diese Charakteristik trifft nicht ganz zu, und so
weit sie zutrifft, halte ich sie für keine Schande. Die Mystiker haben den
eigentlich selbstverständlichen, ja plevnastischen Satz aufgestellt -- man braucht
kein Mystiker zu sein, um ihn zu finden --, daß jedes Geschöpf Gott so weit
faßt, als seine Fassungskraft reicht. Es ist das nur eine besondre Anwendung
des physiologischen Satzes, daß das Weltbild jedes organischen Wesens von
der Zahl und Schärfe seiner Sinne abhängt: das des vollsinnigen Menschen
ist vollständiger als das des Blinden oder Tauben, und das Weltbild des
Wurmes, der nichts hat als den Tastsinn, ist so armselig, daß wir es uns
kaum noch vorzustellen vermögen. Indem nun ganz dasselbe auch von den
geistigen Sinnen gilt, ist damit die Scheidung jeder Religion, die diesen Namen
verdient, in eine esoterische und exoterische gegeben, oder richtiger gesagt in



Hütet euch, spricht Christus in seiner Belehrung über die rechte Art des Mnosengeben^
daß ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übet!
Grenzboten I 1898 8!)
Die Bibel

gegen diese Ungerechtigkeit aufbäumt und sein Los verflucht; nur daß aus
seinem Herzen der Glaube an eine vernünftige und gerechte Weltordnung und
Weltleitung nicht völlig schwinden und in ruhigern Augenblicken das Ver¬
trauen auf den Gott, dessen„Wesen und Wege wir nun einmal nicht begreifen
können, zurückkehren soll. Übrigens verdient es Beachtung, daß sowohl in
den Anklagen der Freunde wie in den Verteidigungsreden Hiobs als das
Wesen der von Gott geforderten Gerechtigkeit, ebenso wie im mosaischen Gesetz
und in den Prophetenbüchern, immer wieder die Mildthätigkeit und Barm¬
herzigkeit,*) der Schutz der Schwachen und Unterdrückten hervorgehoben wird:
„Ich errettete den Armen, der da schrie, und die Waise, die keinen Helfer
hatte. Der dem Untergang Nahe segnete mich, und das Herz der Witwe habe
ich getröstet. Auge war ich dem Blinden, und Fuß dem Lahmen. Mit Ge¬
rechtigkeit bin ich angethan wie mit einem Gewände, und das Gericht war
mein Diadem; ich war ein Vater der Armen und erforschte auf das genaueste
ihre Klagesachen; ich zerbrach die Backenzähne des Ungerechten und riß ihm
den Raub aus den Zähnen. Wann hätte ich jemals meinen Bissen allein ge¬
gessen?"

Es ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen, daß ein so leicht ver¬
ständliches, so packendes Buch wie die Bibel vorübergehend Fetisch und Zauber¬
buch werdeu kann, das mau liest, um es zu verehren und damit eine Gott
gefällige Handlung zu verrichten, aber ohne sich etwas dabei zu denken. So
müssen die Engländer, die bekanntlich bis auf deu heutigen Tag fleißige Bibel¬
leser sind, die Bibel behandelt haben in der Zeit der Ärmenhauskiudergreuel.
Zugleich aber hat es sich da gezeigt, daß die Bibel selbst bei einer solchen
Verfassung des Volksgeistes noch ein unermeßliches Gut bleibt, dessen ver¬
borgne Kraft bei Gelegenheit wieder hervorbricht; Fabrikbesitzer, die da be¬
kannten, daß sie in der Bibel ihre Verdammnis gelesen hätten, wurden Owens
Helfer und leiteten mit diesem die Besserung ein. Auch ohne den philoso¬
phischen Gehalt würde das Buch Hiob wegen seiner großartigen Naturschilde¬
rungen und erschütternden Klagen ein Werk von großem litterarischem Wert
sein. Das Ergebnis seiner Philosophie ist positiv nur insofern, als sie den
Glauben an Gott festhält und das Vertrauen auf ihn stärkt, in Beziehung auf
die Erkenntnis aber negativ. Dasselbe gilt vom Buche Koheleth. Man hat
dieses merkwürdige Erzeugnis eines vielerfahrnen, kritischen, kühl verständigen
Geistes epiknreisch gescholten. Diese Charakteristik trifft nicht ganz zu, und so
weit sie zutrifft, halte ich sie für keine Schande. Die Mystiker haben den
eigentlich selbstverständlichen, ja plevnastischen Satz aufgestellt — man braucht
kein Mystiker zu sein, um ihn zu finden —, daß jedes Geschöpf Gott so weit
faßt, als seine Fassungskraft reicht. Es ist das nur eine besondre Anwendung
des physiologischen Satzes, daß das Weltbild jedes organischen Wesens von
der Zahl und Schärfe seiner Sinne abhängt: das des vollsinnigen Menschen
ist vollständiger als das des Blinden oder Tauben, und das Weltbild des
Wurmes, der nichts hat als den Tastsinn, ist so armselig, daß wir es uns
kaum noch vorzustellen vermögen. Indem nun ganz dasselbe auch von den
geistigen Sinnen gilt, ist damit die Scheidung jeder Religion, die diesen Namen
verdient, in eine esoterische und exoterische gegeben, oder richtiger gesagt in



Hütet euch, spricht Christus in seiner Belehrung über die rechte Art des Mnosengeben^
daß ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übet!
Grenzboten I 1898 8!)
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[0709] Die Bibel gegen diese Ungerechtigkeit aufbäumt und sein Los verflucht; nur daß aus seinem Herzen der Glaube an eine vernünftige und gerechte Weltordnung und Weltleitung nicht völlig schwinden und in ruhigern Augenblicken das Ver¬ trauen auf den Gott, dessen„Wesen und Wege wir nun einmal nicht begreifen können, zurückkehren soll. Übrigens verdient es Beachtung, daß sowohl in den Anklagen der Freunde wie in den Verteidigungsreden Hiobs als das Wesen der von Gott geforderten Gerechtigkeit, ebenso wie im mosaischen Gesetz und in den Prophetenbüchern, immer wieder die Mildthätigkeit und Barm¬ herzigkeit,*) der Schutz der Schwachen und Unterdrückten hervorgehoben wird: „Ich errettete den Armen, der da schrie, und die Waise, die keinen Helfer hatte. Der dem Untergang Nahe segnete mich, und das Herz der Witwe habe ich getröstet. Auge war ich dem Blinden, und Fuß dem Lahmen. Mit Ge¬ rechtigkeit bin ich angethan wie mit einem Gewände, und das Gericht war mein Diadem; ich war ein Vater der Armen und erforschte auf das genaueste ihre Klagesachen; ich zerbrach die Backenzähne des Ungerechten und riß ihm den Raub aus den Zähnen. Wann hätte ich jemals meinen Bissen allein ge¬ gessen?" Es ist eine der merkwürdigsten Erscheinungen, daß ein so leicht ver¬ ständliches, so packendes Buch wie die Bibel vorübergehend Fetisch und Zauber¬ buch werdeu kann, das mau liest, um es zu verehren und damit eine Gott gefällige Handlung zu verrichten, aber ohne sich etwas dabei zu denken. So müssen die Engländer, die bekanntlich bis auf deu heutigen Tag fleißige Bibel¬ leser sind, die Bibel behandelt haben in der Zeit der Ärmenhauskiudergreuel. Zugleich aber hat es sich da gezeigt, daß die Bibel selbst bei einer solchen Verfassung des Volksgeistes noch ein unermeßliches Gut bleibt, dessen ver¬ borgne Kraft bei Gelegenheit wieder hervorbricht; Fabrikbesitzer, die da be¬ kannten, daß sie in der Bibel ihre Verdammnis gelesen hätten, wurden Owens Helfer und leiteten mit diesem die Besserung ein. Auch ohne den philoso¬ phischen Gehalt würde das Buch Hiob wegen seiner großartigen Naturschilde¬ rungen und erschütternden Klagen ein Werk von großem litterarischem Wert sein. Das Ergebnis seiner Philosophie ist positiv nur insofern, als sie den Glauben an Gott festhält und das Vertrauen auf ihn stärkt, in Beziehung auf die Erkenntnis aber negativ. Dasselbe gilt vom Buche Koheleth. Man hat dieses merkwürdige Erzeugnis eines vielerfahrnen, kritischen, kühl verständigen Geistes epiknreisch gescholten. Diese Charakteristik trifft nicht ganz zu, und so weit sie zutrifft, halte ich sie für keine Schande. Die Mystiker haben den eigentlich selbstverständlichen, ja plevnastischen Satz aufgestellt — man braucht kein Mystiker zu sein, um ihn zu finden —, daß jedes Geschöpf Gott so weit faßt, als seine Fassungskraft reicht. Es ist das nur eine besondre Anwendung des physiologischen Satzes, daß das Weltbild jedes organischen Wesens von der Zahl und Schärfe seiner Sinne abhängt: das des vollsinnigen Menschen ist vollständiger als das des Blinden oder Tauben, und das Weltbild des Wurmes, der nichts hat als den Tastsinn, ist so armselig, daß wir es uns kaum noch vorzustellen vermögen. Indem nun ganz dasselbe auch von den geistigen Sinnen gilt, ist damit die Scheidung jeder Religion, die diesen Namen verdient, in eine esoterische und exoterische gegeben, oder richtiger gesagt in Hütet euch, spricht Christus in seiner Belehrung über die rechte Art des Mnosengeben^ daß ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übet! Grenzboten I 1898 8!)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/709>, abgerufen am 08.01.2025.