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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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von der deutschen Volksseele

dann mit dem Rade weiter gesponnen. Die jüngste aber dieser Freundschafts-
formen, die namentlich im Südweste" stark entwickelt ist, haben wir in der christ¬
lichen Patenschaft zu erblicken. Gevatter bedeutet Mitvater, schon dieser Name
sagt genug über die Enge des Bandes, noch höher weist "das süd- und teilweise
mitteldeutsche Götte, Gottl eng.se. und Gotte, Göte, Gode, Getel dew., eine
kurze Koseform für Gottvater und Gottmutter, d. h. Vater und Mutter vor
Gott, wie das englische ^ockkatliei- und AoäMotlisi-, Die Kirche bestellte dem
Christenkinde in dem Taufzeugen einen xg-ehr sxiriwÄis. Aber mit ihrer Ein¬
richtung vereinigte sich nun aufs schönste uralte germanische Sippschaftsübung.
Die Paten wurden in der Regel aus der nächsten Verwandtschaft gewählt."
Die Darstellung der Geschichte des Patenwesens und die Schilderung seiner
jetzigen Ausdehnung im Bauernleben ist eins der schönsten Stücke in Meyers
Buch; der ernste Schluß kann das zeigen. "In Schwaben wird beim Sterben
eines Kindes der Pate oder die Patin gerufen, daß es leichter scheide. Zu
gleichem Zwecke drückt der nordfriesische Gevatter seinem Patenkinde die Vadarjiw,
die Gevattergabe in die Hand, einen kleinen Apfel, in den eine Silber¬
münze hineingesteckt ist. Den Göltelbrief, die vom Paten ausgestellte, mit
gereimten Mahnspruch und auch wohl mit Bildern versehene Taufurkunde,
legt man wohl in seinen Sarg. Den hebt die Patin aufs Haupt, betrübt,
wie wenn das eigne Kind drin läge, und trägt ihn oft stundenweit vom armen
Gebirgsdorf ins Thal zum Friedhof, wo schon der Pate wartet und ihn ver¬
gräbt. Die Patin verziert das Kreuz auf dem Grabe oder hängt die Blumen,
mit denen sie den Sarg bekränzt hat, in der Kapelle auf und schaut noch
Jahre hernach zu den welken Erinnerungen ihres Patenglücks hinüber."

Wer sich durch diese Zeilen Lust machen ließe, Mehers Buch selbst in
die Hand zu nehmen, würde es nicht bereuen. Es ist natürlich wissenschaftlich
zuverlässig gearbeitet, außerdem aber ungewöhnlich fließend geschrieben und,
was uns am meisten wiegt, von einer ganz prächtigen Auffassung der Dinge
belebt. Wie oft muß man sonst bei Arbeiten aus diesem Gebiete den schönen
Stoff bedauern, der in die unrechten Hände gekommen ist. Hier ist er in den
richtigen. Als ein deutliches Beispiel für die bewußt geschmackvolle, im besten
Sinne feine Behandlung des Stoffes ist uns die Verwendung und die Art
der Wiedergabe der Mundart erschienen. Allen Zitaten ist durch sie ihr
heimischer Duft, ihr Erdgeruch gewahrt; im zusammenhängenden Texte tritt
sie leise anklingend nur ganz vereinzelt auf, wo es besondre Reinheit und
Innigkeit und Kraft gilt, etwa mit einem "Herze" oder in dem Satze: "Noch
baden wohl am Bodensee Mädele am ersten Mai im nassen Klee um der
Kraft und Schönheit willen." Das Buch enthält auch eine Menge Fragen und
benutzt sie, den Leser zum Mitleben zu zwingen, der Verfasser nennt es selbst
im Vorwort einen in die erzählende Form gegossenen Fragebogen. Sein Inhalt
erfüllt zwar insofern nicht seinen Titel, als unter Volk fast ausschließlich das


von der deutschen Volksseele

dann mit dem Rade weiter gesponnen. Die jüngste aber dieser Freundschafts-
formen, die namentlich im Südweste» stark entwickelt ist, haben wir in der christ¬
lichen Patenschaft zu erblicken. Gevatter bedeutet Mitvater, schon dieser Name
sagt genug über die Enge des Bandes, noch höher weist „das süd- und teilweise
mitteldeutsche Götte, Gottl eng.se. und Gotte, Göte, Gode, Getel dew., eine
kurze Koseform für Gottvater und Gottmutter, d. h. Vater und Mutter vor
Gott, wie das englische ^ockkatliei- und AoäMotlisi-, Die Kirche bestellte dem
Christenkinde in dem Taufzeugen einen xg-ehr sxiriwÄis. Aber mit ihrer Ein¬
richtung vereinigte sich nun aufs schönste uralte germanische Sippschaftsübung.
Die Paten wurden in der Regel aus der nächsten Verwandtschaft gewählt."
Die Darstellung der Geschichte des Patenwesens und die Schilderung seiner
jetzigen Ausdehnung im Bauernleben ist eins der schönsten Stücke in Meyers
Buch; der ernste Schluß kann das zeigen. „In Schwaben wird beim Sterben
eines Kindes der Pate oder die Patin gerufen, daß es leichter scheide. Zu
gleichem Zwecke drückt der nordfriesische Gevatter seinem Patenkinde die Vadarjiw,
die Gevattergabe in die Hand, einen kleinen Apfel, in den eine Silber¬
münze hineingesteckt ist. Den Göltelbrief, die vom Paten ausgestellte, mit
gereimten Mahnspruch und auch wohl mit Bildern versehene Taufurkunde,
legt man wohl in seinen Sarg. Den hebt die Patin aufs Haupt, betrübt,
wie wenn das eigne Kind drin läge, und trägt ihn oft stundenweit vom armen
Gebirgsdorf ins Thal zum Friedhof, wo schon der Pate wartet und ihn ver¬
gräbt. Die Patin verziert das Kreuz auf dem Grabe oder hängt die Blumen,
mit denen sie den Sarg bekränzt hat, in der Kapelle auf und schaut noch
Jahre hernach zu den welken Erinnerungen ihres Patenglücks hinüber."

Wer sich durch diese Zeilen Lust machen ließe, Mehers Buch selbst in
die Hand zu nehmen, würde es nicht bereuen. Es ist natürlich wissenschaftlich
zuverlässig gearbeitet, außerdem aber ungewöhnlich fließend geschrieben und,
was uns am meisten wiegt, von einer ganz prächtigen Auffassung der Dinge
belebt. Wie oft muß man sonst bei Arbeiten aus diesem Gebiete den schönen
Stoff bedauern, der in die unrechten Hände gekommen ist. Hier ist er in den
richtigen. Als ein deutliches Beispiel für die bewußt geschmackvolle, im besten
Sinne feine Behandlung des Stoffes ist uns die Verwendung und die Art
der Wiedergabe der Mundart erschienen. Allen Zitaten ist durch sie ihr
heimischer Duft, ihr Erdgeruch gewahrt; im zusammenhängenden Texte tritt
sie leise anklingend nur ganz vereinzelt auf, wo es besondre Reinheit und
Innigkeit und Kraft gilt, etwa mit einem „Herze" oder in dem Satze: „Noch
baden wohl am Bodensee Mädele am ersten Mai im nassen Klee um der
Kraft und Schönheit willen." Das Buch enthält auch eine Menge Fragen und
benutzt sie, den Leser zum Mitleben zu zwingen, der Verfasser nennt es selbst
im Vorwort einen in die erzählende Form gegossenen Fragebogen. Sein Inhalt
erfüllt zwar insofern nicht seinen Titel, als unter Volk fast ausschließlich das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/706>, abgerufen am 07.01.2025.