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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Hundert Jahre Allgemeine Zeitung

zum Schlcigworte, und keineswegs nur für den Liberalismus, aus dessen
Reihen es erklungen war. Seitdem ist es so ziemlich zur Regel geworden,
daß der Leser in seiner Zeitung nur seine eignen Ansichten zu finden verlangt,
oder, was noch übler ist, sich von ihr vorschreiben läßt, was seine Ansicht sein
soll. Daß infolge dessen an die Stelle der Parteilichkeit Parteiischkeit getreten
ist, daß man zumeist die Standpunkte andrer nur durch gefärbte Brillen sieht
und sehen will, den politischen Gegner wie einen persönlichen Feind und mit
Haß und Verachtung ansieht, noch ohne ihn zu kennen -- wie schädlich das
für das Gemeinwohl wird, und was überhaupt heutzutage für die Verwirrung der
öffentlichen Meinung geleistet werden kann, das hat jeder Unbefangne und
noch Denkfähige, wenn nicht längst schon, aus dem Dreyfuß-Zolaschen Prozesse
deutlich erkennen müssen.

Allerdings kann volle Unparteilichkeit schwerer erfüllt als gefordert werden,
das lehrt auch die Geschichte der A. Z. Sie ist wohl nur selten eigentlich
parteiisch gewesen, Wohl aber parteilich durch die Verhältnisse. Als sie begann,
wurde ganz Südwestdeutschland noch von der Begeisterung für die "neufrän¬
kische" Freiheit beherrscht: dürfen wir uns darüber wundern, wenn wir durch
den von Holle! herausgegebnen Briefwechsel Ludwig Tiecks sogar den sanften,
"kunstliebenden Klosterbruder" und Berliner Referendar Wackenroder als kleinen
Revolutionär kennen lernen? Und ist nicht der Anblick der Ruinen von Heidel¬
berg, Speyer und Worms bis in neue Zeit außer Stande gewesen, die Franzosen¬
schwärmerei in der Pfalz auszurotten? Bei den Nheinbündlern kam der Par¬
tikularismus der Bewunderung für den ersten Napoleon zu Hilfe. Auch die
Hinneigung zu Österreich hatte und hat ja als letzten Grund die Abneigung
gegen preußisches Wesen und die Furcht vor preußischer Einverleibung. Außer¬
dem mußte Cottci als Württemberger mit seiner Landesregierung, als Besitzer
der A. Z., die 1812 nach Augsburg verlegt wurde, mit Bayern, dazu mit
den beiden Großmächten rechnen; und überall wollten Regierungen und Staats¬
männer nur das als unparteiisch anerkennen, was eben ihren augenblicklichen
Wünschen entsprach. Von allen Seiten kamen Vorwürfe, Verweise, ja Dro¬
hungen, selten Lobsprüche. Wenn sogar Stein, sonst ein Gönner des Blattes,
im Jahre 1828 an Gagern schreibt, "ein unabhängiger selbständiger Mann
wie Herr von Cotta sollte sein Blatt nicht einer Partei vermieten, sondern sie
(es?) nur für Wahrheit und Recht anwenden," so bedauert man doppelt, daß
sich der Anlaß zu diesem Zornausbrüche nicht hat ermitteln lassen. In den
vielen Episteln von Gentz, Zedlitz usw. ist der Zusammenhang nie unklar.
Der jüngere Cotta (Georg) soll einmal gleichzeitig als Anhänger des öster¬
reichischen Pfaffentums, als von Rußland bestochen, als Schweifwedler vor
Österreich bezeichnet und -- von Schelling! -- aufgefordert worden sein, den
"Jakobiner und Lotterbuben" Gustav Kolb, den braven alten Burschenschafter,
zu entlassen. Belobt wird die A. Z. von Berlin aus, weil sie den ihr an-


Hundert Jahre Allgemeine Zeitung

zum Schlcigworte, und keineswegs nur für den Liberalismus, aus dessen
Reihen es erklungen war. Seitdem ist es so ziemlich zur Regel geworden,
daß der Leser in seiner Zeitung nur seine eignen Ansichten zu finden verlangt,
oder, was noch übler ist, sich von ihr vorschreiben läßt, was seine Ansicht sein
soll. Daß infolge dessen an die Stelle der Parteilichkeit Parteiischkeit getreten
ist, daß man zumeist die Standpunkte andrer nur durch gefärbte Brillen sieht
und sehen will, den politischen Gegner wie einen persönlichen Feind und mit
Haß und Verachtung ansieht, noch ohne ihn zu kennen — wie schädlich das
für das Gemeinwohl wird, und was überhaupt heutzutage für die Verwirrung der
öffentlichen Meinung geleistet werden kann, das hat jeder Unbefangne und
noch Denkfähige, wenn nicht längst schon, aus dem Dreyfuß-Zolaschen Prozesse
deutlich erkennen müssen.

Allerdings kann volle Unparteilichkeit schwerer erfüllt als gefordert werden,
das lehrt auch die Geschichte der A. Z. Sie ist wohl nur selten eigentlich
parteiisch gewesen, Wohl aber parteilich durch die Verhältnisse. Als sie begann,
wurde ganz Südwestdeutschland noch von der Begeisterung für die „neufrän¬
kische" Freiheit beherrscht: dürfen wir uns darüber wundern, wenn wir durch
den von Holle! herausgegebnen Briefwechsel Ludwig Tiecks sogar den sanften,
„kunstliebenden Klosterbruder" und Berliner Referendar Wackenroder als kleinen
Revolutionär kennen lernen? Und ist nicht der Anblick der Ruinen von Heidel¬
berg, Speyer und Worms bis in neue Zeit außer Stande gewesen, die Franzosen¬
schwärmerei in der Pfalz auszurotten? Bei den Nheinbündlern kam der Par¬
tikularismus der Bewunderung für den ersten Napoleon zu Hilfe. Auch die
Hinneigung zu Österreich hatte und hat ja als letzten Grund die Abneigung
gegen preußisches Wesen und die Furcht vor preußischer Einverleibung. Außer¬
dem mußte Cottci als Württemberger mit seiner Landesregierung, als Besitzer
der A. Z., die 1812 nach Augsburg verlegt wurde, mit Bayern, dazu mit
den beiden Großmächten rechnen; und überall wollten Regierungen und Staats¬
männer nur das als unparteiisch anerkennen, was eben ihren augenblicklichen
Wünschen entsprach. Von allen Seiten kamen Vorwürfe, Verweise, ja Dro¬
hungen, selten Lobsprüche. Wenn sogar Stein, sonst ein Gönner des Blattes,
im Jahre 1828 an Gagern schreibt, „ein unabhängiger selbständiger Mann
wie Herr von Cotta sollte sein Blatt nicht einer Partei vermieten, sondern sie
(es?) nur für Wahrheit und Recht anwenden," so bedauert man doppelt, daß
sich der Anlaß zu diesem Zornausbrüche nicht hat ermitteln lassen. In den
vielen Episteln von Gentz, Zedlitz usw. ist der Zusammenhang nie unklar.
Der jüngere Cotta (Georg) soll einmal gleichzeitig als Anhänger des öster¬
reichischen Pfaffentums, als von Rußland bestochen, als Schweifwedler vor
Österreich bezeichnet und — von Schelling! — aufgefordert worden sein, den
„Jakobiner und Lotterbuben" Gustav Kolb, den braven alten Burschenschafter,
zu entlassen. Belobt wird die A. Z. von Berlin aus, weil sie den ihr an-


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[0696] Hundert Jahre Allgemeine Zeitung zum Schlcigworte, und keineswegs nur für den Liberalismus, aus dessen Reihen es erklungen war. Seitdem ist es so ziemlich zur Regel geworden, daß der Leser in seiner Zeitung nur seine eignen Ansichten zu finden verlangt, oder, was noch übler ist, sich von ihr vorschreiben läßt, was seine Ansicht sein soll. Daß infolge dessen an die Stelle der Parteilichkeit Parteiischkeit getreten ist, daß man zumeist die Standpunkte andrer nur durch gefärbte Brillen sieht und sehen will, den politischen Gegner wie einen persönlichen Feind und mit Haß und Verachtung ansieht, noch ohne ihn zu kennen — wie schädlich das für das Gemeinwohl wird, und was überhaupt heutzutage für die Verwirrung der öffentlichen Meinung geleistet werden kann, das hat jeder Unbefangne und noch Denkfähige, wenn nicht längst schon, aus dem Dreyfuß-Zolaschen Prozesse deutlich erkennen müssen. Allerdings kann volle Unparteilichkeit schwerer erfüllt als gefordert werden, das lehrt auch die Geschichte der A. Z. Sie ist wohl nur selten eigentlich parteiisch gewesen, Wohl aber parteilich durch die Verhältnisse. Als sie begann, wurde ganz Südwestdeutschland noch von der Begeisterung für die „neufrän¬ kische" Freiheit beherrscht: dürfen wir uns darüber wundern, wenn wir durch den von Holle! herausgegebnen Briefwechsel Ludwig Tiecks sogar den sanften, „kunstliebenden Klosterbruder" und Berliner Referendar Wackenroder als kleinen Revolutionär kennen lernen? Und ist nicht der Anblick der Ruinen von Heidel¬ berg, Speyer und Worms bis in neue Zeit außer Stande gewesen, die Franzosen¬ schwärmerei in der Pfalz auszurotten? Bei den Nheinbündlern kam der Par¬ tikularismus der Bewunderung für den ersten Napoleon zu Hilfe. Auch die Hinneigung zu Österreich hatte und hat ja als letzten Grund die Abneigung gegen preußisches Wesen und die Furcht vor preußischer Einverleibung. Außer¬ dem mußte Cottci als Württemberger mit seiner Landesregierung, als Besitzer der A. Z., die 1812 nach Augsburg verlegt wurde, mit Bayern, dazu mit den beiden Großmächten rechnen; und überall wollten Regierungen und Staats¬ männer nur das als unparteiisch anerkennen, was eben ihren augenblicklichen Wünschen entsprach. Von allen Seiten kamen Vorwürfe, Verweise, ja Dro¬ hungen, selten Lobsprüche. Wenn sogar Stein, sonst ein Gönner des Blattes, im Jahre 1828 an Gagern schreibt, „ein unabhängiger selbständiger Mann wie Herr von Cotta sollte sein Blatt nicht einer Partei vermieten, sondern sie (es?) nur für Wahrheit und Recht anwenden," so bedauert man doppelt, daß sich der Anlaß zu diesem Zornausbrüche nicht hat ermitteln lassen. In den vielen Episteln von Gentz, Zedlitz usw. ist der Zusammenhang nie unklar. Der jüngere Cotta (Georg) soll einmal gleichzeitig als Anhänger des öster¬ reichischen Pfaffentums, als von Rußland bestochen, als Schweifwedler vor Österreich bezeichnet und — von Schelling! — aufgefordert worden sein, den „Jakobiner und Lotterbuben" Gustav Kolb, den braven alten Burschenschafter, zu entlassen. Belobt wird die A. Z. von Berlin aus, weil sie den ihr an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/696>, abgerufen am 08.01.2025.