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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Die Flottenfrage in England 1,332 bis ^33<)

Flotte außerordentlich verstärkt. Frankreich hat im vorigen Jahre bei den
Jubiläumsfeierlichkeiten in England seine maritime Schwäche im Vergleich zu
England stark empfunden und hat unter Zustimmung seines Volkes seitdem
eine große Vauthütigkeit begonnen.

Großbritannien, das dritte und größte Weltreich, mißt seine Seemacht
nur mit der Summe der Flotten der europäischen Großmächte. Jedes Zurück¬
bleiben gegen eine denkbare Vereinigung solcher Flotten erscheint im Lichte der
englischen Weltpolitik als eine gefahrdrohende Schwäche und als Verminderung
der Sicherheit des Landes. Von seiner Flotte verlangt England völligen
Schutz gegen jeden Angriff in Europa und die Erhaltung der uubestrittnen
Seeherrschaft in allen Meeren. Die rücksichtslose Ausnutzung dieser Herrschaft
hat dem englischen Reiche und dem englischen Wohlstande ihr ständiges Wachsen
gesichert. Englands Macht und Reichtum sind das beste Zeugnis für den Nutzen
einer starken Seemacht. Doch auch England hat Zeiten gehabt, wo die Fragen
der innern Politik das Interesse an der Außenwelt und an der Flotte schwachem,
und wo es den Fortschritt andrer Seemächte aus dem Auge ließ, sodaß es im
Anfang der achtziger Jahre hinter dem Ziel, das es sich für den Umfang
seiner Seestreitkraft gesteckt hatte, zurückgeblieben war. Nachdem aber an
Stelle von Gladstone Lord Salisbury ans Ruder getreten war, wurde 1889
mit allen Kräften eine so gewaltige Verstürknng der Flotte und aller mit ihr
zusammenhängenden Einrichtungen ins Werk gesetzt, daß seitdem Englands
Seeherrschaft gesicherter als je dasteht.

Wir stehen jetzt mit unsrer deutschen Flotte vor der trüben Erkenntnis,
daß wir ans allen Seiten überholt worden sind. Durch unser eignes Zurück¬
bleiben und durch den Aufschwung der Seemacht andrer Staaten sind wir seit
fünfzehn Jahren von der dritten Stelle bis zur sechsten, wenn nicht gar zur
siebenten herabgesunken. Im Gegensatz dazu ist unser Wohlstand gestiegen,
unser Seehandel der zweite der Welt geworden, und unsre neuen Kolonien
beanspruchen die stete Gegenwart von Kriegsschiffen. Dabei droht Übervölkerung
oder erhöhte Abgabe unsrer überschüssigen Volkskraft an konkurrirende Staaten,
während unsre über den eignen Bedarf hinausgewachsene Industrie dringend
der Mehrung und der Sicherstellung von Absatzgebieten bedarf. Statt überholt
zu werden, hätte unsre Seemacht seit mehr als zwei Jahrzehnten von Jahr
zu Jahr wachsen und steigen müssen, worüber sich nach unsern Siegen 1870/71
kein Staat Europas gewundert hätte. Aber das Gegenteil ist geschehen; man
rechnet schon in der ganzen Welt mit unsrer Schwäche auf der See und mi߬
gönnt uns alle Vorteile und Rechte, die die ältern Seemächte als selbstverständlich
für sich in Anspruch nehmen. Zu Lande stark sein, zur See aber schwach,
gewährt nur Einwirkung auf die unmittelbaren Nachbarn. Die sich immer
mehr verschärfende politische Lage in der ganzen Welt hat uns jetzt zur Er¬
kenntnis unsrer eignen gefährlichen Lage gebracht. Die Duldung, die früher


Die Flottenfrage in England 1,332 bis ^33<)

Flotte außerordentlich verstärkt. Frankreich hat im vorigen Jahre bei den
Jubiläumsfeierlichkeiten in England seine maritime Schwäche im Vergleich zu
England stark empfunden und hat unter Zustimmung seines Volkes seitdem
eine große Vauthütigkeit begonnen.

Großbritannien, das dritte und größte Weltreich, mißt seine Seemacht
nur mit der Summe der Flotten der europäischen Großmächte. Jedes Zurück¬
bleiben gegen eine denkbare Vereinigung solcher Flotten erscheint im Lichte der
englischen Weltpolitik als eine gefahrdrohende Schwäche und als Verminderung
der Sicherheit des Landes. Von seiner Flotte verlangt England völligen
Schutz gegen jeden Angriff in Europa und die Erhaltung der uubestrittnen
Seeherrschaft in allen Meeren. Die rücksichtslose Ausnutzung dieser Herrschaft
hat dem englischen Reiche und dem englischen Wohlstande ihr ständiges Wachsen
gesichert. Englands Macht und Reichtum sind das beste Zeugnis für den Nutzen
einer starken Seemacht. Doch auch England hat Zeiten gehabt, wo die Fragen
der innern Politik das Interesse an der Außenwelt und an der Flotte schwachem,
und wo es den Fortschritt andrer Seemächte aus dem Auge ließ, sodaß es im
Anfang der achtziger Jahre hinter dem Ziel, das es sich für den Umfang
seiner Seestreitkraft gesteckt hatte, zurückgeblieben war. Nachdem aber an
Stelle von Gladstone Lord Salisbury ans Ruder getreten war, wurde 1889
mit allen Kräften eine so gewaltige Verstürknng der Flotte und aller mit ihr
zusammenhängenden Einrichtungen ins Werk gesetzt, daß seitdem Englands
Seeherrschaft gesicherter als je dasteht.

Wir stehen jetzt mit unsrer deutschen Flotte vor der trüben Erkenntnis,
daß wir ans allen Seiten überholt worden sind. Durch unser eignes Zurück¬
bleiben und durch den Aufschwung der Seemacht andrer Staaten sind wir seit
fünfzehn Jahren von der dritten Stelle bis zur sechsten, wenn nicht gar zur
siebenten herabgesunken. Im Gegensatz dazu ist unser Wohlstand gestiegen,
unser Seehandel der zweite der Welt geworden, und unsre neuen Kolonien
beanspruchen die stete Gegenwart von Kriegsschiffen. Dabei droht Übervölkerung
oder erhöhte Abgabe unsrer überschüssigen Volkskraft an konkurrirende Staaten,
während unsre über den eignen Bedarf hinausgewachsene Industrie dringend
der Mehrung und der Sicherstellung von Absatzgebieten bedarf. Statt überholt
zu werden, hätte unsre Seemacht seit mehr als zwei Jahrzehnten von Jahr
zu Jahr wachsen und steigen müssen, worüber sich nach unsern Siegen 1870/71
kein Staat Europas gewundert hätte. Aber das Gegenteil ist geschehen; man
rechnet schon in der ganzen Welt mit unsrer Schwäche auf der See und mi߬
gönnt uns alle Vorteile und Rechte, die die ältern Seemächte als selbstverständlich
für sich in Anspruch nehmen. Zu Lande stark sein, zur See aber schwach,
gewährt nur Einwirkung auf die unmittelbaren Nachbarn. Die sich immer
mehr verschärfende politische Lage in der ganzen Welt hat uns jetzt zur Er¬
kenntnis unsrer eignen gefährlichen Lage gebracht. Die Duldung, die früher


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[0066] Die Flottenfrage in England 1,332 bis ^33<) Flotte außerordentlich verstärkt. Frankreich hat im vorigen Jahre bei den Jubiläumsfeierlichkeiten in England seine maritime Schwäche im Vergleich zu England stark empfunden und hat unter Zustimmung seines Volkes seitdem eine große Vauthütigkeit begonnen. Großbritannien, das dritte und größte Weltreich, mißt seine Seemacht nur mit der Summe der Flotten der europäischen Großmächte. Jedes Zurück¬ bleiben gegen eine denkbare Vereinigung solcher Flotten erscheint im Lichte der englischen Weltpolitik als eine gefahrdrohende Schwäche und als Verminderung der Sicherheit des Landes. Von seiner Flotte verlangt England völligen Schutz gegen jeden Angriff in Europa und die Erhaltung der uubestrittnen Seeherrschaft in allen Meeren. Die rücksichtslose Ausnutzung dieser Herrschaft hat dem englischen Reiche und dem englischen Wohlstande ihr ständiges Wachsen gesichert. Englands Macht und Reichtum sind das beste Zeugnis für den Nutzen einer starken Seemacht. Doch auch England hat Zeiten gehabt, wo die Fragen der innern Politik das Interesse an der Außenwelt und an der Flotte schwachem, und wo es den Fortschritt andrer Seemächte aus dem Auge ließ, sodaß es im Anfang der achtziger Jahre hinter dem Ziel, das es sich für den Umfang seiner Seestreitkraft gesteckt hatte, zurückgeblieben war. Nachdem aber an Stelle von Gladstone Lord Salisbury ans Ruder getreten war, wurde 1889 mit allen Kräften eine so gewaltige Verstürknng der Flotte und aller mit ihr zusammenhängenden Einrichtungen ins Werk gesetzt, daß seitdem Englands Seeherrschaft gesicherter als je dasteht. Wir stehen jetzt mit unsrer deutschen Flotte vor der trüben Erkenntnis, daß wir ans allen Seiten überholt worden sind. Durch unser eignes Zurück¬ bleiben und durch den Aufschwung der Seemacht andrer Staaten sind wir seit fünfzehn Jahren von der dritten Stelle bis zur sechsten, wenn nicht gar zur siebenten herabgesunken. Im Gegensatz dazu ist unser Wohlstand gestiegen, unser Seehandel der zweite der Welt geworden, und unsre neuen Kolonien beanspruchen die stete Gegenwart von Kriegsschiffen. Dabei droht Übervölkerung oder erhöhte Abgabe unsrer überschüssigen Volkskraft an konkurrirende Staaten, während unsre über den eignen Bedarf hinausgewachsene Industrie dringend der Mehrung und der Sicherstellung von Absatzgebieten bedarf. Statt überholt zu werden, hätte unsre Seemacht seit mehr als zwei Jahrzehnten von Jahr zu Jahr wachsen und steigen müssen, worüber sich nach unsern Siegen 1870/71 kein Staat Europas gewundert hätte. Aber das Gegenteil ist geschehen; man rechnet schon in der ganzen Welt mit unsrer Schwäche auf der See und mi߬ gönnt uns alle Vorteile und Rechte, die die ältern Seemächte als selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Zu Lande stark sein, zur See aber schwach, gewährt nur Einwirkung auf die unmittelbaren Nachbarn. Die sich immer mehr verschärfende politische Lage in der ganzen Welt hat uns jetzt zur Er¬ kenntnis unsrer eignen gefährlichen Lage gebracht. Die Duldung, die früher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/66>, abgerufen am 07.01.2025.