Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Doktrinarismus in der Sozialpolitik Mangel an Solidaritätsgefühl bei einem großen Teile der Arbeiter aus solchen Wir haben uns vergeblich bemüht, aus diesen amtlichen Raisonnements Doktrinarismus in der Sozialpolitik Mangel an Solidaritätsgefühl bei einem großen Teile der Arbeiter aus solchen Wir haben uns vergeblich bemüht, aus diesen amtlichen Raisonnements <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0584" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227486"/> <fw type="header" place="top"> Doktrinarismus in der Sozialpolitik</fw><lb/> <p xml:id="ID_2120" prev="#ID_2119"> Mangel an Solidaritätsgefühl bei einem großen Teile der Arbeiter aus solchen<lb/> Verhältnissen erkläre, liege die Möglichkeit des Fortschreitens im ganzen in<lb/> einer Änderung der innern Beschaffenheit ausgedehnter Arbeiterschichten. Es<lb/> werde mancher Änderung in der innern Beschaffenheit der Arbeiterschaft be¬<lb/> dürfen, bis die unter den verschiedensten Verhältnissen lebenden Arbeiter geneigt<lb/> seien, sür die Gesamtinteressen ihres Standes auch dann Opfer aller Art zu<lb/> bringen, wenn sie selbst, was ja vielfach der Fall sei, kein Bedürfnis nach<lb/> irgend welcher Änderung empfänden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2121"> Wir haben uns vergeblich bemüht, aus diesen amtlichen Raisonnements<lb/> eine praktisch befriedigende Antwort auf die uns am Herzen liegende Frage zu<lb/> gewinnen. Nichts als Abstraktion, Theorie, Doktrinarismus. Was soll der<lb/> redliche Arbeiterfreund in der Praxis, was soll vor allem der junge Beamte<lb/> damit anfangen? Wir können es keinem verdenken, wenn er, der Autorität<lb/> vertrauend, sich schließlich sagt: Die Zufriedenheit der Arbeiter ist ein Fehler;<lb/> macht sie unzufrieden, damit sie sich organisiren! Ob der Lohn hoch oder<lb/> niedrig ist, darauf kommt bei dieser allein selig machenden Unzufriedenheit gar<lb/> nichts an; auch darauf nicht, ob der Mangel eines befriedigenden häuslichen<lb/> Lebens aus ungenügender Wohnung oder andern Gründen, z. V. Leichtsinn,<lb/> Genußsucht, Roheit gegen die Angehörigen usw., herrührt. Nach dem wirt¬<lb/> schaftlichen und moralischen Verhalten der einzelnen Arbeiter, dieser Haupt-<lb/> quelle der Verschiedenheit in der Lage und im Wohlbefinden, hat der moderne<lb/> Sozialpolitiker überhaupt nicht zu fragen. Ihm muß es genügen, „wenn die<lb/> Arbeiter den Gegensatz ihrer Lage zu der ganzen Kulturentwicklung empfinden."<lb/> Die innere Natur ihrer Lage muß den Arbeitern verleidet sein, trotz mancher<lb/> Genüsse, die ihnen der höhere Lohn verschafft, wenn sie nicht an einen Spar-<lb/> pfennig denken. Wie könnte man vollends die Anerkennung der menschen¬<lb/> freundlichen Fürsorge von Unternehmern für ihre Arbeiter wünschen, Anhäng¬<lb/> lichkeit an den Arbeitgeber, ein patriarchalisch gesundes Arbeitsverhältnis<lb/> überhaupt! Wenn so etwas noch im Kleingewerbe vorkommt, so ist es eine<lb/> staunenswerte und im Grunde sehr unerfreuliche Anomalie! Wir dürfen es<lb/> den unbefangnen, im Leben erfahrnen und arbeiterfreundlichen Lesern überlassen,<lb/> selbst über diese Vorstellungen vom Arbeitcrelend und Arbeiterglück zu urteilen.<lb/> Die Herren Staatssozialisten scheinen jeden Blick für die Verschiedenheit der<lb/> moralischen Qualitäten unter den einzelnen Arbeitern verloren zu haben, nur von<lb/> der „Differenzirung" in den Verhältnissen und Schichten wissen sie zu reden.<lb/> Mögen sie das Lehrgeld vou ihren Meistern und Propheten zurück verlangen,<lb/> praktische Arbeiterfreunde werden sie erst werden, wenn sie gelernt haben, die<lb/> sittliche Persönlichkeit der Arbeiter nicht mit dem Pariamaßstab der Unzurech¬<lb/> nungsfähigkeit im Thun und Lassen zu messen, sondern in ihrer vollen Selbst-<lb/><note type="byline"> /S</note> verantwortlichkeit und Leistungsfähigkeit zu würdigen. </p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0584]
Doktrinarismus in der Sozialpolitik
Mangel an Solidaritätsgefühl bei einem großen Teile der Arbeiter aus solchen
Verhältnissen erkläre, liege die Möglichkeit des Fortschreitens im ganzen in
einer Änderung der innern Beschaffenheit ausgedehnter Arbeiterschichten. Es
werde mancher Änderung in der innern Beschaffenheit der Arbeiterschaft be¬
dürfen, bis die unter den verschiedensten Verhältnissen lebenden Arbeiter geneigt
seien, sür die Gesamtinteressen ihres Standes auch dann Opfer aller Art zu
bringen, wenn sie selbst, was ja vielfach der Fall sei, kein Bedürfnis nach
irgend welcher Änderung empfänden.
Wir haben uns vergeblich bemüht, aus diesen amtlichen Raisonnements
eine praktisch befriedigende Antwort auf die uns am Herzen liegende Frage zu
gewinnen. Nichts als Abstraktion, Theorie, Doktrinarismus. Was soll der
redliche Arbeiterfreund in der Praxis, was soll vor allem der junge Beamte
damit anfangen? Wir können es keinem verdenken, wenn er, der Autorität
vertrauend, sich schließlich sagt: Die Zufriedenheit der Arbeiter ist ein Fehler;
macht sie unzufrieden, damit sie sich organisiren! Ob der Lohn hoch oder
niedrig ist, darauf kommt bei dieser allein selig machenden Unzufriedenheit gar
nichts an; auch darauf nicht, ob der Mangel eines befriedigenden häuslichen
Lebens aus ungenügender Wohnung oder andern Gründen, z. V. Leichtsinn,
Genußsucht, Roheit gegen die Angehörigen usw., herrührt. Nach dem wirt¬
schaftlichen und moralischen Verhalten der einzelnen Arbeiter, dieser Haupt-
quelle der Verschiedenheit in der Lage und im Wohlbefinden, hat der moderne
Sozialpolitiker überhaupt nicht zu fragen. Ihm muß es genügen, „wenn die
Arbeiter den Gegensatz ihrer Lage zu der ganzen Kulturentwicklung empfinden."
Die innere Natur ihrer Lage muß den Arbeitern verleidet sein, trotz mancher
Genüsse, die ihnen der höhere Lohn verschafft, wenn sie nicht an einen Spar-
pfennig denken. Wie könnte man vollends die Anerkennung der menschen¬
freundlichen Fürsorge von Unternehmern für ihre Arbeiter wünschen, Anhäng¬
lichkeit an den Arbeitgeber, ein patriarchalisch gesundes Arbeitsverhältnis
überhaupt! Wenn so etwas noch im Kleingewerbe vorkommt, so ist es eine
staunenswerte und im Grunde sehr unerfreuliche Anomalie! Wir dürfen es
den unbefangnen, im Leben erfahrnen und arbeiterfreundlichen Lesern überlassen,
selbst über diese Vorstellungen vom Arbeitcrelend und Arbeiterglück zu urteilen.
Die Herren Staatssozialisten scheinen jeden Blick für die Verschiedenheit der
moralischen Qualitäten unter den einzelnen Arbeitern verloren zu haben, nur von
der „Differenzirung" in den Verhältnissen und Schichten wissen sie zu reden.
Mögen sie das Lehrgeld vou ihren Meistern und Propheten zurück verlangen,
praktische Arbeiterfreunde werden sie erst werden, wenn sie gelernt haben, die
sittliche Persönlichkeit der Arbeiter nicht mit dem Pariamaßstab der Unzurech¬
nungsfähigkeit im Thun und Lassen zu messen, sondern in ihrer vollen Selbst-
/S verantwortlichkeit und Leistungsfähigkeit zu würdigen.
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