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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Doktrinarismus in der Sozialpolitik

machen zu können als durch einige Mitteilungen aus dem amtlichen Jahres¬
bericht der badischen Fabrikinspektion für 1897.

Der Vorstand dieser Behörde, or. Woerishoffer, gehört bekanntlich zu
den ausgesprochnen Freunden der Arbeiterkoalitionen und der Arbeiterbewegung
überhaupt, und er gilt als eine Autorität unter den sozialpolitischen Beamten.
Der Bericht widmet der "Organisation der Arbeiter" einen besondern Abschnitt,
worin unter andern folgende Ausführungen stehen: Da im Lande den Organi¬
sationen, die sich mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter
befaßten, keine Hindernisse von den Behörden bereitet würden, so zeige es sich
deutlich, daß die der fortschreitenden Organisation entgegen stehenden Schwierig¬
keiten lediglich innere seien, die in der Sache selbst lägen. Sie seien in der
Verschiedenheit der Lage der Arbeiter und in der Art, wie diese Lage empfunden
würde, begründet. Die Verschiedenheit der Lage der Arbeiter zeige sich mehr und
mehr als die größte, nicht aber als die einzige Schwierigkeit der Organisation.
Es komme dabei viel weniger aus die Verschiedenheit in der materiellen Lage
selbst, als auf die innere Beschaffenheit dieser Lage an. Die Lohnhöhe insbesondre
spiele hier sogar eine untergeordnete Rolle. Nur die Arbeiter seien geneigt und
vielleicht auch "vereigenschaftet," Arbeiterorganisationen "in nachhaltiger Weise"
anzugehören, die, losgerissen aus festen Lebensverhültnissen, in Industriezentren
in ungenügenden engen Wohnungen zusammengedrängt seien, die aus diesen
und andern Gründen kein sie befriedigendes häusliches Leben führen könnten,
und denen die Unsicherheit ihrer ganzen Existenz, vielleicht trotz augenblicklicher
günstiger Einnahmen, zum Bewußsein gekommen sei -- mit einem Worte die
prvlctarisirten Arbeiter, die "den Gegensatz ihrer Lage zu der ganzen Kultur-
entwicklung" empfinden. Auch wenn sie sich in den höhern Lohnklassen manche
Genüsse verschaffen könnten, die sich andre versagen müßten, so täusche sie dies
über die innere Natur ihrer Lage nicht hinweg. Ganz anders lügen die Ver¬
hältnisse der Arbeiter, besonders auf dem Lande, die im Zusammenhange mit
den Vevölkerungskreisen blieben, ans denen sie hervorgegangen seien. Sie seien
im allgemeinen nicht proletarisirt, auch wenn sie niedrigere Löhne bezögen als
die andern. Ans dieser Verschiedenheit der Lage gehe aber mit Notwendigkeit
eine verschiedne Denk- und Empfindungsweise hervor, die einem dauernden
Zusammengehen in gewerkschaftlichen Vereinigungen mit ihren großen An¬
sprüchen an die Hingebung des Einzelnen hindernd im Wege stünden. Nur bei
Abstimmungen, die ja keine besondern Ansprüche an die Einzelnen machten,
gäben sie vielleicht ihrem Gemeinschaftsgefühl einen bequemen und für sie wohl¬
feilen Ausdruck. Auch in den Städten seien die denselben Beschäftigungen an¬
gehörenden Arbeiter durchaus nicht alle in der gleichen Lage. In einigen
Industriezweigen komme es sogar vor, daß die Arbeiter in kleinen Betrieben
besser daran seien als die in großen Fabriken. Sie Hütten dann keine Lust,
sich einer allgemeinen Lohnbewegung oder gar einer Arbeitseinstellung anzu¬
schließen, weil ihre Lage ihren Ansprüchen genüge. Soweit sich nicht der


Doktrinarismus in der Sozialpolitik

machen zu können als durch einige Mitteilungen aus dem amtlichen Jahres¬
bericht der badischen Fabrikinspektion für 1897.

Der Vorstand dieser Behörde, or. Woerishoffer, gehört bekanntlich zu
den ausgesprochnen Freunden der Arbeiterkoalitionen und der Arbeiterbewegung
überhaupt, und er gilt als eine Autorität unter den sozialpolitischen Beamten.
Der Bericht widmet der „Organisation der Arbeiter" einen besondern Abschnitt,
worin unter andern folgende Ausführungen stehen: Da im Lande den Organi¬
sationen, die sich mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter
befaßten, keine Hindernisse von den Behörden bereitet würden, so zeige es sich
deutlich, daß die der fortschreitenden Organisation entgegen stehenden Schwierig¬
keiten lediglich innere seien, die in der Sache selbst lägen. Sie seien in der
Verschiedenheit der Lage der Arbeiter und in der Art, wie diese Lage empfunden
würde, begründet. Die Verschiedenheit der Lage der Arbeiter zeige sich mehr und
mehr als die größte, nicht aber als die einzige Schwierigkeit der Organisation.
Es komme dabei viel weniger aus die Verschiedenheit in der materiellen Lage
selbst, als auf die innere Beschaffenheit dieser Lage an. Die Lohnhöhe insbesondre
spiele hier sogar eine untergeordnete Rolle. Nur die Arbeiter seien geneigt und
vielleicht auch „vereigenschaftet," Arbeiterorganisationen „in nachhaltiger Weise"
anzugehören, die, losgerissen aus festen Lebensverhültnissen, in Industriezentren
in ungenügenden engen Wohnungen zusammengedrängt seien, die aus diesen
und andern Gründen kein sie befriedigendes häusliches Leben führen könnten,
und denen die Unsicherheit ihrer ganzen Existenz, vielleicht trotz augenblicklicher
günstiger Einnahmen, zum Bewußsein gekommen sei — mit einem Worte die
prvlctarisirten Arbeiter, die „den Gegensatz ihrer Lage zu der ganzen Kultur-
entwicklung" empfinden. Auch wenn sie sich in den höhern Lohnklassen manche
Genüsse verschaffen könnten, die sich andre versagen müßten, so täusche sie dies
über die innere Natur ihrer Lage nicht hinweg. Ganz anders lügen die Ver¬
hältnisse der Arbeiter, besonders auf dem Lande, die im Zusammenhange mit
den Vevölkerungskreisen blieben, ans denen sie hervorgegangen seien. Sie seien
im allgemeinen nicht proletarisirt, auch wenn sie niedrigere Löhne bezögen als
die andern. Ans dieser Verschiedenheit der Lage gehe aber mit Notwendigkeit
eine verschiedne Denk- und Empfindungsweise hervor, die einem dauernden
Zusammengehen in gewerkschaftlichen Vereinigungen mit ihren großen An¬
sprüchen an die Hingebung des Einzelnen hindernd im Wege stünden. Nur bei
Abstimmungen, die ja keine besondern Ansprüche an die Einzelnen machten,
gäben sie vielleicht ihrem Gemeinschaftsgefühl einen bequemen und für sie wohl¬
feilen Ausdruck. Auch in den Städten seien die denselben Beschäftigungen an¬
gehörenden Arbeiter durchaus nicht alle in der gleichen Lage. In einigen
Industriezweigen komme es sogar vor, daß die Arbeiter in kleinen Betrieben
besser daran seien als die in großen Fabriken. Sie Hütten dann keine Lust,
sich einer allgemeinen Lohnbewegung oder gar einer Arbeitseinstellung anzu¬
schließen, weil ihre Lage ihren Ansprüchen genüge. Soweit sich nicht der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/583>, abgerufen am 08.01.2025.