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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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der Spitze." Daher gab es neben der konstitnirenden Frankfurter National¬
versammlung eine ganze Reihe andrer konstituirender Versammlungen in den
Einzelstaaten, die völlig unbekümmert um einander und schließlich auch um
das Frankfurter Parlament die "Freiheitsfrage" jede auf ihre Weise zu lösen
versuchten. Begann man doch auch in Frankfurt, ungewarnt durch das Bei¬
spiel der französischen Nationalversammlung von 1789, das Verfassungswerk
mit der Beratung der "Grundrechte" des deutschen Volkes.

In der damaligen Lage war es freilich kaum möglich, anders zu ver¬
fahren -- und das ist auch, damals wie später, immer zur Begründung an¬
geführt worden --, denn man wußte noch nicht einmal, auf welchen Gebiets¬
umfang diese Bestimmungen und die zu beratende Reichsverfassung Anwendung
finden sollten; man wollte also Gesetze schaffen, ehe man wußte, wo die
Grenzen des Staates, für den sie gelten sollten, sein würden. Eben darin
liegt der zwingende Beweis, daß das erste deutsche Parlament zu früh kam,
daß das deutsche Volk für die Einheitsbewegung innerlich noch nicht reif war.
Erst seit dem Oktober 1848 begann es klar zu werden, daß Österreich einem
deutschen Bundesstaate, den man doch schaffen wollte und schaffen mußte,
nicht angehören könne. Damit aber war im Grunde die Unmöglichkeit, die
"deutsche Frage" auf dem eingeschlagnen parlamentarischen Wege, also ohne
Gewalt, zu lösen, unwiderleglich erwiesen, denn daß die österreichische Gro߬
macht ohne Zwang ihre Stellung in Deutschland aufgeben werde, konnte nnr
der Doktrinarismus erwarten, und es ist geradezu das wesentlichste Verdienst
des Frankfurter Parlaments, in einem großartigen dialektischen Prozesse das
Verhältnis Österreichs zu einem deutschen Bundesstaate gründlich aufgeklärt
zu haben.

Aber noch mehr: die volkstümliche Einheitsbewegung und mit ihr die
große Mehrheit der Paulskirche stand theoretisch nach den noch fortwirkenden
und vor allem in Frankreich herrschenden Theorien des Naturrechts auf dem
Boden der Volkssouveränität, sie wollte demnach den Fürsten die von ihr ge¬
schaffne Verfassung einfach aufnötigen. Sie verkannte also die monarchischen
Traditionen Deutschlands, die starken konservativen Kräfte vornehmlich des
Ostens und die Bedeutung der thatsächlichen Macht. Das war begreiflich,
denn die Regierungen hatten im Mürz 1848 nirgends nachhaltige Kraft ge¬
zeigt und auch die Nationalversammlung widerstandslos anerkannt; selbst in
Preußen hatte das Königtum zwar den Berliner Aufstand am 18. März mit
seinen treuen Truppen niedergeschlagen, war aber dann doch schwächlich zurück¬
gewichen. So entwarf man eine Verfassung ohne nur zu wissen, ob der
Monarch, von dem das Gelingen doch schließlich abhing, der König von
Preußen, sich auf ihren Boden stellen und ihre Durchführung übernehmen
würde. Nur eine Partei war sich völlig klar und daher entschlossen, von der
Nationalsouveränität praktisch rücksichtslosen Gebrauch zu machen, das war die


vor fünfzig Jahren

der Spitze." Daher gab es neben der konstitnirenden Frankfurter National¬
versammlung eine ganze Reihe andrer konstituirender Versammlungen in den
Einzelstaaten, die völlig unbekümmert um einander und schließlich auch um
das Frankfurter Parlament die „Freiheitsfrage" jede auf ihre Weise zu lösen
versuchten. Begann man doch auch in Frankfurt, ungewarnt durch das Bei¬
spiel der französischen Nationalversammlung von 1789, das Verfassungswerk
mit der Beratung der „Grundrechte" des deutschen Volkes.

In der damaligen Lage war es freilich kaum möglich, anders zu ver¬
fahren — und das ist auch, damals wie später, immer zur Begründung an¬
geführt worden —, denn man wußte noch nicht einmal, auf welchen Gebiets¬
umfang diese Bestimmungen und die zu beratende Reichsverfassung Anwendung
finden sollten; man wollte also Gesetze schaffen, ehe man wußte, wo die
Grenzen des Staates, für den sie gelten sollten, sein würden. Eben darin
liegt der zwingende Beweis, daß das erste deutsche Parlament zu früh kam,
daß das deutsche Volk für die Einheitsbewegung innerlich noch nicht reif war.
Erst seit dem Oktober 1848 begann es klar zu werden, daß Österreich einem
deutschen Bundesstaate, den man doch schaffen wollte und schaffen mußte,
nicht angehören könne. Damit aber war im Grunde die Unmöglichkeit, die
„deutsche Frage" auf dem eingeschlagnen parlamentarischen Wege, also ohne
Gewalt, zu lösen, unwiderleglich erwiesen, denn daß die österreichische Gro߬
macht ohne Zwang ihre Stellung in Deutschland aufgeben werde, konnte nnr
der Doktrinarismus erwarten, und es ist geradezu das wesentlichste Verdienst
des Frankfurter Parlaments, in einem großartigen dialektischen Prozesse das
Verhältnis Österreichs zu einem deutschen Bundesstaate gründlich aufgeklärt
zu haben.

Aber noch mehr: die volkstümliche Einheitsbewegung und mit ihr die
große Mehrheit der Paulskirche stand theoretisch nach den noch fortwirkenden
und vor allem in Frankreich herrschenden Theorien des Naturrechts auf dem
Boden der Volkssouveränität, sie wollte demnach den Fürsten die von ihr ge¬
schaffne Verfassung einfach aufnötigen. Sie verkannte also die monarchischen
Traditionen Deutschlands, die starken konservativen Kräfte vornehmlich des
Ostens und die Bedeutung der thatsächlichen Macht. Das war begreiflich,
denn die Regierungen hatten im Mürz 1848 nirgends nachhaltige Kraft ge¬
zeigt und auch die Nationalversammlung widerstandslos anerkannt; selbst in
Preußen hatte das Königtum zwar den Berliner Aufstand am 18. März mit
seinen treuen Truppen niedergeschlagen, war aber dann doch schwächlich zurück¬
gewichen. So entwarf man eine Verfassung ohne nur zu wissen, ob der
Monarch, von dem das Gelingen doch schließlich abhing, der König von
Preußen, sich auf ihren Boden stellen und ihre Durchführung übernehmen
würde. Nur eine Partei war sich völlig klar und daher entschlossen, von der
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[0574] vor fünfzig Jahren der Spitze." Daher gab es neben der konstitnirenden Frankfurter National¬ versammlung eine ganze Reihe andrer konstituirender Versammlungen in den Einzelstaaten, die völlig unbekümmert um einander und schließlich auch um das Frankfurter Parlament die „Freiheitsfrage" jede auf ihre Weise zu lösen versuchten. Begann man doch auch in Frankfurt, ungewarnt durch das Bei¬ spiel der französischen Nationalversammlung von 1789, das Verfassungswerk mit der Beratung der „Grundrechte" des deutschen Volkes. In der damaligen Lage war es freilich kaum möglich, anders zu ver¬ fahren — und das ist auch, damals wie später, immer zur Begründung an¬ geführt worden —, denn man wußte noch nicht einmal, auf welchen Gebiets¬ umfang diese Bestimmungen und die zu beratende Reichsverfassung Anwendung finden sollten; man wollte also Gesetze schaffen, ehe man wußte, wo die Grenzen des Staates, für den sie gelten sollten, sein würden. Eben darin liegt der zwingende Beweis, daß das erste deutsche Parlament zu früh kam, daß das deutsche Volk für die Einheitsbewegung innerlich noch nicht reif war. Erst seit dem Oktober 1848 begann es klar zu werden, daß Österreich einem deutschen Bundesstaate, den man doch schaffen wollte und schaffen mußte, nicht angehören könne. Damit aber war im Grunde die Unmöglichkeit, die „deutsche Frage" auf dem eingeschlagnen parlamentarischen Wege, also ohne Gewalt, zu lösen, unwiderleglich erwiesen, denn daß die österreichische Gro߬ macht ohne Zwang ihre Stellung in Deutschland aufgeben werde, konnte nnr der Doktrinarismus erwarten, und es ist geradezu das wesentlichste Verdienst des Frankfurter Parlaments, in einem großartigen dialektischen Prozesse das Verhältnis Österreichs zu einem deutschen Bundesstaate gründlich aufgeklärt zu haben. Aber noch mehr: die volkstümliche Einheitsbewegung und mit ihr die große Mehrheit der Paulskirche stand theoretisch nach den noch fortwirkenden und vor allem in Frankreich herrschenden Theorien des Naturrechts auf dem Boden der Volkssouveränität, sie wollte demnach den Fürsten die von ihr ge¬ schaffne Verfassung einfach aufnötigen. Sie verkannte also die monarchischen Traditionen Deutschlands, die starken konservativen Kräfte vornehmlich des Ostens und die Bedeutung der thatsächlichen Macht. Das war begreiflich, denn die Regierungen hatten im Mürz 1848 nirgends nachhaltige Kraft ge¬ zeigt und auch die Nationalversammlung widerstandslos anerkannt; selbst in Preußen hatte das Königtum zwar den Berliner Aufstand am 18. März mit seinen treuen Truppen niedergeschlagen, war aber dann doch schwächlich zurück¬ gewichen. So entwarf man eine Verfassung ohne nur zu wissen, ob der Monarch, von dem das Gelingen doch schließlich abhing, der König von Preußen, sich auf ihren Boden stellen und ihre Durchführung übernehmen würde. Nur eine Partei war sich völlig klar und daher entschlossen, von der Nationalsouveränität praktisch rücksichtslosen Gebrauch zu machen, das war die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/574>, abgerufen am 07.01.2025.