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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Leser und Beurteiler in den Triumphgesang einstimmen werden, mit dem ein
paar enthusiastische Verehrer das Werk begrüßt haben.

Die Fragen liegen nahe, wie kommt Hermann Sudermann, der Modernste
der Modernen, zu Johannes dem Täufer, warum haben gerade ihn die ein¬
fachen Berichte des Matthäus- und Markusevangeliums über den Wüsten-
Prediger und den Vorläufer Christi so tief ergriffen, wo liegen die Fäden, die
von den früher den Dichter beherrschenden Empfindungen zu den gegenwärtigen
leiten, inwiefern hat der Schilderer jüngster Sitten und Unsitten in der Zeit
des irdischen Wandels des Erlösers einen Spiegel sür Menschenleben von
gestern und heute erkannt? Es ist zwar schon lange offenbar, daß sich gerade
die Schriftsteller des jüngsten Deutschland, denen es um größere Entwicklung
zu thun ist, und die sich von der Enge und Einseitigkeit der bloßen Augen-
blicksdcirstellnug bedrückt fühlten, nach verschiednen Seiten über diese Schranken
hinausstreben; und Hermann Sudermann selbst hat in einem Vortrage auf
dem Dresdner internationalen Litteraturkongreß die Losung verkündet, daß es
gelte, "sich durch den Wust der schwergeplagten Zeit durchzuringen, den Bann
der Trostlosigkeit zu brechen und aufatmend zu klarern Höhen der Menscheu-
beurteilung hinanzusteigen." Aber nicht jeder kann jedes, und der erste Versuch,
neben dem Wust der Zeit auch ein Stück Vergangenheit im großen Stile zu
verkörpern, den Sudermcmn in seinen ..Morituri" wagte, war keineswegs ver¬
heißend ausgefallen. Der totgeweihte Ostgotenkönig nahm sich neben dem
Dragonerleutnant Fritzchen und seinem Vater, dem Herrn Major, die beide
"dem Wust und der Trostlosigkeit" der Gegenwart entstammten, denn doch
wie "purer, purer Schneiderscherz" aus. Die Gewöhnung, niemals die Mensch¬
heit und das Menschenschicksal und immer nur die Gesellschaft von heute und
die Konflikte zu schauen, die aus dein Gegensatze von Proletariat und Protzen-
tnm erwachsen, läßt sich nicht so leicht überwinden, und das Goethische Wort:
"Er ist nicht dabei hergekommen" kann eben auch auf den Dichter angewandt
werden. Auf der einen Seite ist gewiß, daß manches gewagt werden muß,
daß es ohne einige Gewaltsamkeit schon nicht mehr abgeht, wenn man auf
den natürlichen Boden der großen Dichtung, als einer Weltwiedergabe und
Weltdarstellung, zurückgelangen will. Auf der andern ist es klar, daß Suder-
mmms "Johannes" keineswegs bloß ein Werk des Vorsatzes und willkürlicher
Stvffwcchl ist, sondern daß nur allzuviel Einflüsse der den Dichter zunächst
umgebenden Atmosphäre einen unbewußten und viel stärkern Anteil daran
haben, als jener sich träumen ließ. Leute, die gern das Zeichen für die Sache
nehmen, erkennen im "Johannes" ein Zeugnis für die wachsende Gewalt der
religiösen Sehnsucht und Bewegung, die allmählich wieder alle Schichten unsers
Volkes und namentlich auch die Kreise der Gebildeten zu durchdringen anfängt.
Ernst- und Wohlmeinende wollen in der Tragödie wenigstens eine Abrechnung
mit der subjektiven Überhebung der "Herrennatur" erkennen, die seit einem


Leser und Beurteiler in den Triumphgesang einstimmen werden, mit dem ein
paar enthusiastische Verehrer das Werk begrüßt haben.

Die Fragen liegen nahe, wie kommt Hermann Sudermann, der Modernste
der Modernen, zu Johannes dem Täufer, warum haben gerade ihn die ein¬
fachen Berichte des Matthäus- und Markusevangeliums über den Wüsten-
Prediger und den Vorläufer Christi so tief ergriffen, wo liegen die Fäden, die
von den früher den Dichter beherrschenden Empfindungen zu den gegenwärtigen
leiten, inwiefern hat der Schilderer jüngster Sitten und Unsitten in der Zeit
des irdischen Wandels des Erlösers einen Spiegel sür Menschenleben von
gestern und heute erkannt? Es ist zwar schon lange offenbar, daß sich gerade
die Schriftsteller des jüngsten Deutschland, denen es um größere Entwicklung
zu thun ist, und die sich von der Enge und Einseitigkeit der bloßen Augen-
blicksdcirstellnug bedrückt fühlten, nach verschiednen Seiten über diese Schranken
hinausstreben; und Hermann Sudermann selbst hat in einem Vortrage auf
dem Dresdner internationalen Litteraturkongreß die Losung verkündet, daß es
gelte, „sich durch den Wust der schwergeplagten Zeit durchzuringen, den Bann
der Trostlosigkeit zu brechen und aufatmend zu klarern Höhen der Menscheu-
beurteilung hinanzusteigen." Aber nicht jeder kann jedes, und der erste Versuch,
neben dem Wust der Zeit auch ein Stück Vergangenheit im großen Stile zu
verkörpern, den Sudermcmn in seinen ..Morituri" wagte, war keineswegs ver¬
heißend ausgefallen. Der totgeweihte Ostgotenkönig nahm sich neben dem
Dragonerleutnant Fritzchen und seinem Vater, dem Herrn Major, die beide
„dem Wust und der Trostlosigkeit" der Gegenwart entstammten, denn doch
wie „purer, purer Schneiderscherz" aus. Die Gewöhnung, niemals die Mensch¬
heit und das Menschenschicksal und immer nur die Gesellschaft von heute und
die Konflikte zu schauen, die aus dein Gegensatze von Proletariat und Protzen-
tnm erwachsen, läßt sich nicht so leicht überwinden, und das Goethische Wort:
„Er ist nicht dabei hergekommen" kann eben auch auf den Dichter angewandt
werden. Auf der einen Seite ist gewiß, daß manches gewagt werden muß,
daß es ohne einige Gewaltsamkeit schon nicht mehr abgeht, wenn man auf
den natürlichen Boden der großen Dichtung, als einer Weltwiedergabe und
Weltdarstellung, zurückgelangen will. Auf der andern ist es klar, daß Suder-
mmms „Johannes" keineswegs bloß ein Werk des Vorsatzes und willkürlicher
Stvffwcchl ist, sondern daß nur allzuviel Einflüsse der den Dichter zunächst
umgebenden Atmosphäre einen unbewußten und viel stärkern Anteil daran
haben, als jener sich träumen ließ. Leute, die gern das Zeichen für die Sache
nehmen, erkennen im „Johannes" ein Zeugnis für die wachsende Gewalt der
religiösen Sehnsucht und Bewegung, die allmählich wieder alle Schichten unsers
Volkes und namentlich auch die Kreise der Gebildeten zu durchdringen anfängt.
Ernst- und Wohlmeinende wollen in der Tragödie wenigstens eine Abrechnung
mit der subjektiven Überhebung der „Herrennatur" erkennen, die seit einem


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[0537] Leser und Beurteiler in den Triumphgesang einstimmen werden, mit dem ein paar enthusiastische Verehrer das Werk begrüßt haben. Die Fragen liegen nahe, wie kommt Hermann Sudermann, der Modernste der Modernen, zu Johannes dem Täufer, warum haben gerade ihn die ein¬ fachen Berichte des Matthäus- und Markusevangeliums über den Wüsten- Prediger und den Vorläufer Christi so tief ergriffen, wo liegen die Fäden, die von den früher den Dichter beherrschenden Empfindungen zu den gegenwärtigen leiten, inwiefern hat der Schilderer jüngster Sitten und Unsitten in der Zeit des irdischen Wandels des Erlösers einen Spiegel sür Menschenleben von gestern und heute erkannt? Es ist zwar schon lange offenbar, daß sich gerade die Schriftsteller des jüngsten Deutschland, denen es um größere Entwicklung zu thun ist, und die sich von der Enge und Einseitigkeit der bloßen Augen- blicksdcirstellnug bedrückt fühlten, nach verschiednen Seiten über diese Schranken hinausstreben; und Hermann Sudermann selbst hat in einem Vortrage auf dem Dresdner internationalen Litteraturkongreß die Losung verkündet, daß es gelte, „sich durch den Wust der schwergeplagten Zeit durchzuringen, den Bann der Trostlosigkeit zu brechen und aufatmend zu klarern Höhen der Menscheu- beurteilung hinanzusteigen." Aber nicht jeder kann jedes, und der erste Versuch, neben dem Wust der Zeit auch ein Stück Vergangenheit im großen Stile zu verkörpern, den Sudermcmn in seinen ..Morituri" wagte, war keineswegs ver¬ heißend ausgefallen. Der totgeweihte Ostgotenkönig nahm sich neben dem Dragonerleutnant Fritzchen und seinem Vater, dem Herrn Major, die beide „dem Wust und der Trostlosigkeit" der Gegenwart entstammten, denn doch wie „purer, purer Schneiderscherz" aus. Die Gewöhnung, niemals die Mensch¬ heit und das Menschenschicksal und immer nur die Gesellschaft von heute und die Konflikte zu schauen, die aus dein Gegensatze von Proletariat und Protzen- tnm erwachsen, läßt sich nicht so leicht überwinden, und das Goethische Wort: „Er ist nicht dabei hergekommen" kann eben auch auf den Dichter angewandt werden. Auf der einen Seite ist gewiß, daß manches gewagt werden muß, daß es ohne einige Gewaltsamkeit schon nicht mehr abgeht, wenn man auf den natürlichen Boden der großen Dichtung, als einer Weltwiedergabe und Weltdarstellung, zurückgelangen will. Auf der andern ist es klar, daß Suder- mmms „Johannes" keineswegs bloß ein Werk des Vorsatzes und willkürlicher Stvffwcchl ist, sondern daß nur allzuviel Einflüsse der den Dichter zunächst umgebenden Atmosphäre einen unbewußten und viel stärkern Anteil daran haben, als jener sich träumen ließ. Leute, die gern das Zeichen für die Sache nehmen, erkennen im „Johannes" ein Zeugnis für die wachsende Gewalt der religiösen Sehnsucht und Bewegung, die allmählich wieder alle Schichten unsers Volkes und namentlich auch die Kreise der Gebildeten zu durchdringen anfängt. Ernst- und Wohlmeinende wollen in der Tragödie wenigstens eine Abrechnung mit der subjektiven Überhebung der „Herrennatur" erkennen, die seit einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/537>, abgerufen am 07.01.2025.