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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Zozialauslese

hat, die am besten für den Sieg in diesem Kampfe eignenden Eigenschasten zu
unterdrücken" (S. 245). Der Tanglichste ist nicht der Beste. Wenn auf unsrer
Halbkugel noch einmal eine Eisperiode eintreten sollte, würden immer ver-
kvmmuere und niedrigere Organismen mis die tauglichste" überleben und zuletzt
nnr noch Flechten und Algen übrig bleiben (S, 285). In der menschlichen
Gesellschaft fehlt bis jetzt eine "Maschinerie," die das Aufsteigen der Begabten
in höhere Schichte" und das Hinabsinke" der Unbegabten in niedere besorgen
konnte (S. 157). Aus der Entwicklungslehre kann keine Ethik abgeleitet
werden; Sittlichkeit ist das Gegenteil von Natur (284 und 286). "Wir
müssen es als ein für allemal ausgemacht betrachten, daß der sittliche Fortschritt
der Gesellschaft nicht von dem Nachahmen des Naturwaltens und noch weniger
von der Flucht davor zu erwarten ist, sondern von dem Kampf gegen dieses
Walten" (S. 287). Der Zustand des auf Exportindustrie angewiesene" Volkes
ist unbefriedigend und unsicher; "wir sind nicht nur ein Volk von Krämern,
sonder" wir sind bei Strafe des Hungers gezwungen, es zu sein" (S. 198).
"Wer mit der Lage der Bevölkerung der großen Jndustriemittelpuukte in Eng¬
land oder anderwärts vertraut ist, der weiß auch, daß unter einer großen und
immer noch wachsenden Masse jener Bevölkerung das Elend unumschränkt
herrscht" (S. 202). Da Huxley, soviel man sehe" kann, an einen persönlichen
Gott und an die Unsterblichkeit der Seele nicht geglaubt hat, so mußte er
beim Anblick der Zustände seines Vaterlands jenem Pessimismus verfallen, den
die berühmte Stelle vom Kometenschweife ausdrückt (S. 147). Da sie sehr
gut das entschleierte Bild zu Sais zeigt, das jeder folgerichtige Jünger Darwins
im entscheidenden Augenblick zu sehen bekommt, so wollen wir sie zum Schluß
hersetzen. "Ich trage kein Bedenken, der Ansicht Ausdruck zu verleihe", daß
ich, falls wirklich keine Hoffnung auf eine umfassende Verbesserung der Lage
der Mehrheit der menschlichen Familie besteht . . ., die Ankunft eines freund¬
lichen Kometen, der die ganze Weltgeschichte wegfegte, als erwünschtes Ende
willkommen heißen würde. Was für Vorteil bringt es dem menschlichen
Prometheus, daß er das Feuer vom Himmel gestohlen hat, damit es sein
Sklave sei, und daß ihm die Geister der Erde und der Luft gehorche", wenn
ihm denn doch der Geier der Bettelarmut die Eingeweide zerfleischen und ihn
an dem Rande des Verderbens festhalten soll?"




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hat, die am besten für den Sieg in diesem Kampfe eignenden Eigenschasten zu
unterdrücken" (S. 245). Der Tanglichste ist nicht der Beste. Wenn auf unsrer
Halbkugel noch einmal eine Eisperiode eintreten sollte, würden immer ver-
kvmmuere und niedrigere Organismen mis die tauglichste» überleben und zuletzt
nnr noch Flechten und Algen übrig bleiben (S, 285). In der menschlichen
Gesellschaft fehlt bis jetzt eine „Maschinerie," die das Aufsteigen der Begabten
in höhere Schichte» und das Hinabsinke» der Unbegabten in niedere besorgen
konnte (S. 157). Aus der Entwicklungslehre kann keine Ethik abgeleitet
werden; Sittlichkeit ist das Gegenteil von Natur (284 und 286). „Wir
müssen es als ein für allemal ausgemacht betrachten, daß der sittliche Fortschritt
der Gesellschaft nicht von dem Nachahmen des Naturwaltens und noch weniger
von der Flucht davor zu erwarten ist, sondern von dem Kampf gegen dieses
Walten" (S. 287). Der Zustand des auf Exportindustrie angewiesene» Volkes
ist unbefriedigend und unsicher; „wir sind nicht nur ein Volk von Krämern,
sonder» wir sind bei Strafe des Hungers gezwungen, es zu sein" (S. 198).
„Wer mit der Lage der Bevölkerung der großen Jndustriemittelpuukte in Eng¬
land oder anderwärts vertraut ist, der weiß auch, daß unter einer großen und
immer noch wachsenden Masse jener Bevölkerung das Elend unumschränkt
herrscht" (S. 202). Da Huxley, soviel man sehe» kann, an einen persönlichen
Gott und an die Unsterblichkeit der Seele nicht geglaubt hat, so mußte er
beim Anblick der Zustände seines Vaterlands jenem Pessimismus verfallen, den
die berühmte Stelle vom Kometenschweife ausdrückt (S. 147). Da sie sehr
gut das entschleierte Bild zu Sais zeigt, das jeder folgerichtige Jünger Darwins
im entscheidenden Augenblick zu sehen bekommt, so wollen wir sie zum Schluß
hersetzen. „Ich trage kein Bedenken, der Ansicht Ausdruck zu verleihe«, daß
ich, falls wirklich keine Hoffnung auf eine umfassende Verbesserung der Lage
der Mehrheit der menschlichen Familie besteht . . ., die Ankunft eines freund¬
lichen Kometen, der die ganze Weltgeschichte wegfegte, als erwünschtes Ende
willkommen heißen würde. Was für Vorteil bringt es dem menschlichen
Prometheus, daß er das Feuer vom Himmel gestohlen hat, damit es sein
Sklave sei, und daß ihm die Geister der Erde und der Luft gehorche», wenn
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an dem Rande des Verderbens festhalten soll?"




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[0535] Zozialauslese hat, die am besten für den Sieg in diesem Kampfe eignenden Eigenschasten zu unterdrücken" (S. 245). Der Tanglichste ist nicht der Beste. Wenn auf unsrer Halbkugel noch einmal eine Eisperiode eintreten sollte, würden immer ver- kvmmuere und niedrigere Organismen mis die tauglichste» überleben und zuletzt nnr noch Flechten und Algen übrig bleiben (S, 285). In der menschlichen Gesellschaft fehlt bis jetzt eine „Maschinerie," die das Aufsteigen der Begabten in höhere Schichte» und das Hinabsinke» der Unbegabten in niedere besorgen konnte (S. 157). Aus der Entwicklungslehre kann keine Ethik abgeleitet werden; Sittlichkeit ist das Gegenteil von Natur (284 und 286). „Wir müssen es als ein für allemal ausgemacht betrachten, daß der sittliche Fortschritt der Gesellschaft nicht von dem Nachahmen des Naturwaltens und noch weniger von der Flucht davor zu erwarten ist, sondern von dem Kampf gegen dieses Walten" (S. 287). Der Zustand des auf Exportindustrie angewiesene» Volkes ist unbefriedigend und unsicher; „wir sind nicht nur ein Volk von Krämern, sonder» wir sind bei Strafe des Hungers gezwungen, es zu sein" (S. 198). „Wer mit der Lage der Bevölkerung der großen Jndustriemittelpuukte in Eng¬ land oder anderwärts vertraut ist, der weiß auch, daß unter einer großen und immer noch wachsenden Masse jener Bevölkerung das Elend unumschränkt herrscht" (S. 202). Da Huxley, soviel man sehe» kann, an einen persönlichen Gott und an die Unsterblichkeit der Seele nicht geglaubt hat, so mußte er beim Anblick der Zustände seines Vaterlands jenem Pessimismus verfallen, den die berühmte Stelle vom Kometenschweife ausdrückt (S. 147). Da sie sehr gut das entschleierte Bild zu Sais zeigt, das jeder folgerichtige Jünger Darwins im entscheidenden Augenblick zu sehen bekommt, so wollen wir sie zum Schluß hersetzen. „Ich trage kein Bedenken, der Ansicht Ausdruck zu verleihe«, daß ich, falls wirklich keine Hoffnung auf eine umfassende Verbesserung der Lage der Mehrheit der menschlichen Familie besteht . . ., die Ankunft eines freund¬ lichen Kometen, der die ganze Weltgeschichte wegfegte, als erwünschtes Ende willkommen heißen würde. Was für Vorteil bringt es dem menschlichen Prometheus, daß er das Feuer vom Himmel gestohlen hat, damit es sein Sklave sei, und daß ihm die Geister der Erde und der Luft gehorche», wenn ihm denn doch der Geier der Bettelarmut die Eingeweide zerfleischen und ihn an dem Rande des Verderbens festhalten soll?"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/535>, abgerufen am 07.01.2025.