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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

Metamorphose der Pflanzen und Metamorphose der Tiere seien die Zeitgenossen
verständnislos vorübergegangen, "während sie Schiller zujauchzten, wie er im
Verschleierten Bild zu Sais die mittelalterliche Vorstellung von der Gott¬
gefälligkeit des Nichtforschens, des Sichbescheidens mit seiner Unwissenheit ver¬
herrlicht." Woher weiß Tille, daß die genannten Werke Goethes unverstanden
geblieben sind? Ich selbst habe sie mit Entzücken gelesen, lange ehe ich Darwin
kennen gelernt habe, und ich vermute, daß sie taufenden vor mir ebenso gut
gefallen haben. Was aber das verschleierte Bild anlangt, so ist es zunächst
nicht wahr, daß man im Mittelalter das Nichtforschen für gottgefällig gehalten
habe; sind doch die Scholastiker die kühnsten Forscher gewesen. Dann aber
hat Schiller offenbar nicht das Forschen für Gott mißfällig erklären, sondern
bloß aussprechen wollen, daß die Losung des Welträtsels möglicherweise nicht
beglückt; und darin hat ihm der Verlauf der wissenschaftlichen Entwicklung
recht gegeben: sowohl die Wirklichkeit, die uns Darwin, wie die, die Schopen¬
hauer enthüllt hat, ist ein Scheusal, und es bleibt uns nur übrig, zu glauben
und zu hoffen, daß das von ihnen enthüllte Stück Wirklichkeit nicht die ganze
Wirklichkeit sei.

Mit hoher Freude hat es mich erfüllt, zu finden, daß Huxleh weit mehr
der vou mir geteilten idealistischen Auffassung zuneigt als der Tilles. Die
letzten vier der von diesem deutsch herausgegebnen Essahs sind ziemlich frei
von solchen volkswirtschaftlichen Schnitzern, wie sie an den ersten dreien gerügt
werden mußten (siehe Heft 1 der Grenzboten) und führe" u. a. folgende Sätze
aus: Entwicklung ist keine Erklärung des Natnrgescheheus, sondern nur "eine
verallgemeinerte Angabe über die Wege und Ergebnisse dieses Geschehens"
(S. 227). An dem Troste, daß der schreckliche Da'seiuskampf doch endlich auf
etwas gutes hiuauslanfe, und daß der Vorfahr mit seinem Leiden sür die
größere Vollkommenheit der Nachkommen zahle, an diesem Troste wäre etwas,
"wenn das heutige Geschlecht "ach chinesischer Weise seinen Vorfahren seine
Schuld abzutragen vermöchte. Sonst bleibt unklar, welchen Ersatz für seine
Leiden der Eohippus damit bekommt, daß ein paar Millionen Jahre später
eins seiner Nachkommen den Preis im Derbhrennen davonträgt." Dazu ist
es "och "ein Irrtum, die Entwicklung zeige eine beharrliche Tendenz zu ge¬
steigerter Vollkommenheit" (S. 18!) bis 190). Der Wilde "ficht den Daseins¬
kampf bis zum herben Ende aus wie jedes andre Tier, der sittliche Mensch
weiht seine beste Kraft dem Ziele, diesem Kampfe Grenzen zu setzen" (S. 193).
Der zivilisirte Mensch stellt dem Natnrzustciude einen Knnstzustaud entgegen,
der Wildnis einen Garten, in dem die natürliche Auslese nicht mehr walten
darf, sondern der Mensch uach den Forderungen seiner Vernunft ausliest und
ausrottet (S. 229 ff.). Trotzdem daß das sittliche Walten unter Umständen
mit dem Naturwalten in Einklang stehen kann, bleibt es doch im allgemeinen
wahr, daß es "dem Natinwalteu grundsätzlich zuwiderläuft und die Tendenz


Sozialauslese

Metamorphose der Pflanzen und Metamorphose der Tiere seien die Zeitgenossen
verständnislos vorübergegangen, „während sie Schiller zujauchzten, wie er im
Verschleierten Bild zu Sais die mittelalterliche Vorstellung von der Gott¬
gefälligkeit des Nichtforschens, des Sichbescheidens mit seiner Unwissenheit ver¬
herrlicht." Woher weiß Tille, daß die genannten Werke Goethes unverstanden
geblieben sind? Ich selbst habe sie mit Entzücken gelesen, lange ehe ich Darwin
kennen gelernt habe, und ich vermute, daß sie taufenden vor mir ebenso gut
gefallen haben. Was aber das verschleierte Bild anlangt, so ist es zunächst
nicht wahr, daß man im Mittelalter das Nichtforschen für gottgefällig gehalten
habe; sind doch die Scholastiker die kühnsten Forscher gewesen. Dann aber
hat Schiller offenbar nicht das Forschen für Gott mißfällig erklären, sondern
bloß aussprechen wollen, daß die Losung des Welträtsels möglicherweise nicht
beglückt; und darin hat ihm der Verlauf der wissenschaftlichen Entwicklung
recht gegeben: sowohl die Wirklichkeit, die uns Darwin, wie die, die Schopen¬
hauer enthüllt hat, ist ein Scheusal, und es bleibt uns nur übrig, zu glauben
und zu hoffen, daß das von ihnen enthüllte Stück Wirklichkeit nicht die ganze
Wirklichkeit sei.

Mit hoher Freude hat es mich erfüllt, zu finden, daß Huxleh weit mehr
der vou mir geteilten idealistischen Auffassung zuneigt als der Tilles. Die
letzten vier der von diesem deutsch herausgegebnen Essahs sind ziemlich frei
von solchen volkswirtschaftlichen Schnitzern, wie sie an den ersten dreien gerügt
werden mußten (siehe Heft 1 der Grenzboten) und führe» u. a. folgende Sätze
aus: Entwicklung ist keine Erklärung des Natnrgescheheus, sondern nur „eine
verallgemeinerte Angabe über die Wege und Ergebnisse dieses Geschehens"
(S. 227). An dem Troste, daß der schreckliche Da'seiuskampf doch endlich auf
etwas gutes hiuauslanfe, und daß der Vorfahr mit seinem Leiden sür die
größere Vollkommenheit der Nachkommen zahle, an diesem Troste wäre etwas,
„wenn das heutige Geschlecht »ach chinesischer Weise seinen Vorfahren seine
Schuld abzutragen vermöchte. Sonst bleibt unklar, welchen Ersatz für seine
Leiden der Eohippus damit bekommt, daß ein paar Millionen Jahre später
eins seiner Nachkommen den Preis im Derbhrennen davonträgt." Dazu ist
es »och „ein Irrtum, die Entwicklung zeige eine beharrliche Tendenz zu ge¬
steigerter Vollkommenheit" (S. 18!) bis 190). Der Wilde „ficht den Daseins¬
kampf bis zum herben Ende aus wie jedes andre Tier, der sittliche Mensch
weiht seine beste Kraft dem Ziele, diesem Kampfe Grenzen zu setzen" (S. 193).
Der zivilisirte Mensch stellt dem Natnrzustciude einen Knnstzustaud entgegen,
der Wildnis einen Garten, in dem die natürliche Auslese nicht mehr walten
darf, sondern der Mensch uach den Forderungen seiner Vernunft ausliest und
ausrottet (S. 229 ff.). Trotzdem daß das sittliche Walten unter Umständen
mit dem Naturwalten in Einklang stehen kann, bleibt es doch im allgemeinen
wahr, daß es „dem Natinwalteu grundsätzlich zuwiderläuft und die Tendenz


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[0534] Sozialauslese Metamorphose der Pflanzen und Metamorphose der Tiere seien die Zeitgenossen verständnislos vorübergegangen, „während sie Schiller zujauchzten, wie er im Verschleierten Bild zu Sais die mittelalterliche Vorstellung von der Gott¬ gefälligkeit des Nichtforschens, des Sichbescheidens mit seiner Unwissenheit ver¬ herrlicht." Woher weiß Tille, daß die genannten Werke Goethes unverstanden geblieben sind? Ich selbst habe sie mit Entzücken gelesen, lange ehe ich Darwin kennen gelernt habe, und ich vermute, daß sie taufenden vor mir ebenso gut gefallen haben. Was aber das verschleierte Bild anlangt, so ist es zunächst nicht wahr, daß man im Mittelalter das Nichtforschen für gottgefällig gehalten habe; sind doch die Scholastiker die kühnsten Forscher gewesen. Dann aber hat Schiller offenbar nicht das Forschen für Gott mißfällig erklären, sondern bloß aussprechen wollen, daß die Losung des Welträtsels möglicherweise nicht beglückt; und darin hat ihm der Verlauf der wissenschaftlichen Entwicklung recht gegeben: sowohl die Wirklichkeit, die uns Darwin, wie die, die Schopen¬ hauer enthüllt hat, ist ein Scheusal, und es bleibt uns nur übrig, zu glauben und zu hoffen, daß das von ihnen enthüllte Stück Wirklichkeit nicht die ganze Wirklichkeit sei. Mit hoher Freude hat es mich erfüllt, zu finden, daß Huxleh weit mehr der vou mir geteilten idealistischen Auffassung zuneigt als der Tilles. Die letzten vier der von diesem deutsch herausgegebnen Essahs sind ziemlich frei von solchen volkswirtschaftlichen Schnitzern, wie sie an den ersten dreien gerügt werden mußten (siehe Heft 1 der Grenzboten) und führe» u. a. folgende Sätze aus: Entwicklung ist keine Erklärung des Natnrgescheheus, sondern nur „eine verallgemeinerte Angabe über die Wege und Ergebnisse dieses Geschehens" (S. 227). An dem Troste, daß der schreckliche Da'seiuskampf doch endlich auf etwas gutes hiuauslanfe, und daß der Vorfahr mit seinem Leiden sür die größere Vollkommenheit der Nachkommen zahle, an diesem Troste wäre etwas, „wenn das heutige Geschlecht »ach chinesischer Weise seinen Vorfahren seine Schuld abzutragen vermöchte. Sonst bleibt unklar, welchen Ersatz für seine Leiden der Eohippus damit bekommt, daß ein paar Millionen Jahre später eins seiner Nachkommen den Preis im Derbhrennen davonträgt." Dazu ist es »och „ein Irrtum, die Entwicklung zeige eine beharrliche Tendenz zu ge¬ steigerter Vollkommenheit" (S. 18!) bis 190). Der Wilde „ficht den Daseins¬ kampf bis zum herben Ende aus wie jedes andre Tier, der sittliche Mensch weiht seine beste Kraft dem Ziele, diesem Kampfe Grenzen zu setzen" (S. 193). Der zivilisirte Mensch stellt dem Natnrzustciude einen Knnstzustaud entgegen, der Wildnis einen Garten, in dem die natürliche Auslese nicht mehr walten darf, sondern der Mensch uach den Forderungen seiner Vernunft ausliest und ausrottet (S. 229 ff.). Trotzdem daß das sittliche Walten unter Umständen mit dem Naturwalten in Einklang stehen kann, bleibt es doch im allgemeinen wahr, daß es „dem Natinwalteu grundsätzlich zuwiderläuft und die Tendenz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/534>, abgerufen am 08.01.2025.