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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Gin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte

Demgegenüber ist von Geschichtskennern schon oft hervorgehoben worden,
daß Sozialismus und Kommunismus durchaus keine so unerhörten, der neuesten
Zeit eigentümlichen Erscheinungen sind, sondern vielmehr eine Krankheit, die
sich fast regelmäßig bei hochkultivirten Völkern in einer gewissen Lebensperiode
wiederholt. Nur wenn der Körper schon zu schwach ist, um eine Genesung
zu bewirken, pflegt das Übel zum Untergang der wahren Freiheit und Ordnung
-- meist dnrch den Cäsarismus -- zu führen.

Der durch seine geschichtliche Betrachtungsweise ausgezeichnete National¬
ökonom Noscher hat in dem bereits erwähnten Buche diesen Gegenstand ein¬
gehend behandelt; er nennt als die Perioden der Weltgeschichte, in denen die
Verbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen am mächtigsten gewesen ist:
bei den Alten das Zeitalter des sinkenden Griechentums und der ausartenden
römischen Republik, bei den Neuern das Zeitalter vor dem Siege der Re¬
formation und endlich unsre Zeit. Der gelehrte Verfasser hält es in seinem
Werke für nötig, genau zu bezeichnen, was er unter dem Wort Sozialismus
versteht, eine löbliche Gewohnheit, die leider von vielen "Männern der Praxis"
oder Nationalökonomen allerneusten Schlages nicht nachgeahmt wird. So
unzweideutig das Wort Kommunismus ist -- es bezeichnet die Aufhebung des
Privateigentums --, so vieldeutig ist das Wort Sozialismus. Nun findet er den
Unterschied von Sozialismus und Nationalökonomie keineswegs darin, daß
jener sich mehr für die niedern Klassen interessirte oder der Gemeinwirtschaft
ein schlechthin größeres Feld einräumte. Er nennt Sozialismus vielmehr eine
Gemeinwirtschaft, die über den Gemeinsinn hinausgeht. "Eine solche ist immer
freiheitswidrig, bei ihrer ersten Einführung auch rechtswidrig; und sie kaun
den durch Zwang verletzten Personen keine volle Entschädigung gewähren, weil
sie für das Volksvermögen durch Schwächung der Triebfedern zu Fleiß und
Sparsamkeit immer eine Art Raubbau sein wird. Dagegen empfiehlt die
Nationalökonomie nur dann die Expropriationen, wenn die Triebfedern zu
Fleiß und Sparsamkeit im Volke dadurch verstärkt werden; und der dadurch
gewonnene Vermögenszuwachs dient ihr zu voller Entschädigung der Exprv-
priirten." Man sieht, das Eigentum ist ihm nicht unbedingt heilig, es ist
aber natürlich anch nicht -- wie die ins Blödsinnige getriebne Gegenströmung
will -- Diebstahl.

Fünf Bedingungen werden genannt, deren Zusammentreffen der Idee einer
allgemeinen Gütergemeinschaft besonders Vorschub leistet. 1. Ein schroffes
Gegenüberstehen von Reich und Arm, wo auf der einen Seite der Stolz, auf
der andern Hoffnungslosigkeit und Neid zur schlimmsten Verbitterung führen
müssen. 2. Ein hoher Grad von Arbeitsteilung, sodaß der Zusammenhang
von Verdienst und Lohn nur noch schwer zu übersehen ist. 3. Hohe Ansprüche
der niedern Klassen infolge der übertriebnen demokratischen Prinzipien der
Gleichheit und Volkssouveränität. 4. Erschütterung des öffentlichen Rechts-


Gin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte

Demgegenüber ist von Geschichtskennern schon oft hervorgehoben worden,
daß Sozialismus und Kommunismus durchaus keine so unerhörten, der neuesten
Zeit eigentümlichen Erscheinungen sind, sondern vielmehr eine Krankheit, die
sich fast regelmäßig bei hochkultivirten Völkern in einer gewissen Lebensperiode
wiederholt. Nur wenn der Körper schon zu schwach ist, um eine Genesung
zu bewirken, pflegt das Übel zum Untergang der wahren Freiheit und Ordnung
— meist dnrch den Cäsarismus — zu führen.

Der durch seine geschichtliche Betrachtungsweise ausgezeichnete National¬
ökonom Noscher hat in dem bereits erwähnten Buche diesen Gegenstand ein¬
gehend behandelt; er nennt als die Perioden der Weltgeschichte, in denen die
Verbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen am mächtigsten gewesen ist:
bei den Alten das Zeitalter des sinkenden Griechentums und der ausartenden
römischen Republik, bei den Neuern das Zeitalter vor dem Siege der Re¬
formation und endlich unsre Zeit. Der gelehrte Verfasser hält es in seinem
Werke für nötig, genau zu bezeichnen, was er unter dem Wort Sozialismus
versteht, eine löbliche Gewohnheit, die leider von vielen „Männern der Praxis"
oder Nationalökonomen allerneusten Schlages nicht nachgeahmt wird. So
unzweideutig das Wort Kommunismus ist — es bezeichnet die Aufhebung des
Privateigentums —, so vieldeutig ist das Wort Sozialismus. Nun findet er den
Unterschied von Sozialismus und Nationalökonomie keineswegs darin, daß
jener sich mehr für die niedern Klassen interessirte oder der Gemeinwirtschaft
ein schlechthin größeres Feld einräumte. Er nennt Sozialismus vielmehr eine
Gemeinwirtschaft, die über den Gemeinsinn hinausgeht. „Eine solche ist immer
freiheitswidrig, bei ihrer ersten Einführung auch rechtswidrig; und sie kaun
den durch Zwang verletzten Personen keine volle Entschädigung gewähren, weil
sie für das Volksvermögen durch Schwächung der Triebfedern zu Fleiß und
Sparsamkeit immer eine Art Raubbau sein wird. Dagegen empfiehlt die
Nationalökonomie nur dann die Expropriationen, wenn die Triebfedern zu
Fleiß und Sparsamkeit im Volke dadurch verstärkt werden; und der dadurch
gewonnene Vermögenszuwachs dient ihr zu voller Entschädigung der Exprv-
priirten." Man sieht, das Eigentum ist ihm nicht unbedingt heilig, es ist
aber natürlich anch nicht — wie die ins Blödsinnige getriebne Gegenströmung
will — Diebstahl.

Fünf Bedingungen werden genannt, deren Zusammentreffen der Idee einer
allgemeinen Gütergemeinschaft besonders Vorschub leistet. 1. Ein schroffes
Gegenüberstehen von Reich und Arm, wo auf der einen Seite der Stolz, auf
der andern Hoffnungslosigkeit und Neid zur schlimmsten Verbitterung führen
müssen. 2. Ein hoher Grad von Arbeitsteilung, sodaß der Zusammenhang
von Verdienst und Lohn nur noch schwer zu übersehen ist. 3. Hohe Ansprüche
der niedern Klassen infolge der übertriebnen demokratischen Prinzipien der
Gleichheit und Volkssouveränität. 4. Erschütterung des öffentlichen Rechts-


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[0518] Gin sozialpolitischer Rückblick in die deutsche Geschichte Demgegenüber ist von Geschichtskennern schon oft hervorgehoben worden, daß Sozialismus und Kommunismus durchaus keine so unerhörten, der neuesten Zeit eigentümlichen Erscheinungen sind, sondern vielmehr eine Krankheit, die sich fast regelmäßig bei hochkultivirten Völkern in einer gewissen Lebensperiode wiederholt. Nur wenn der Körper schon zu schwach ist, um eine Genesung zu bewirken, pflegt das Übel zum Untergang der wahren Freiheit und Ordnung — meist dnrch den Cäsarismus — zu führen. Der durch seine geschichtliche Betrachtungsweise ausgezeichnete National¬ ökonom Noscher hat in dem bereits erwähnten Buche diesen Gegenstand ein¬ gehend behandelt; er nennt als die Perioden der Weltgeschichte, in denen die Verbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen am mächtigsten gewesen ist: bei den Alten das Zeitalter des sinkenden Griechentums und der ausartenden römischen Republik, bei den Neuern das Zeitalter vor dem Siege der Re¬ formation und endlich unsre Zeit. Der gelehrte Verfasser hält es in seinem Werke für nötig, genau zu bezeichnen, was er unter dem Wort Sozialismus versteht, eine löbliche Gewohnheit, die leider von vielen „Männern der Praxis" oder Nationalökonomen allerneusten Schlages nicht nachgeahmt wird. So unzweideutig das Wort Kommunismus ist — es bezeichnet die Aufhebung des Privateigentums —, so vieldeutig ist das Wort Sozialismus. Nun findet er den Unterschied von Sozialismus und Nationalökonomie keineswegs darin, daß jener sich mehr für die niedern Klassen interessirte oder der Gemeinwirtschaft ein schlechthin größeres Feld einräumte. Er nennt Sozialismus vielmehr eine Gemeinwirtschaft, die über den Gemeinsinn hinausgeht. „Eine solche ist immer freiheitswidrig, bei ihrer ersten Einführung auch rechtswidrig; und sie kaun den durch Zwang verletzten Personen keine volle Entschädigung gewähren, weil sie für das Volksvermögen durch Schwächung der Triebfedern zu Fleiß und Sparsamkeit immer eine Art Raubbau sein wird. Dagegen empfiehlt die Nationalökonomie nur dann die Expropriationen, wenn die Triebfedern zu Fleiß und Sparsamkeit im Volke dadurch verstärkt werden; und der dadurch gewonnene Vermögenszuwachs dient ihr zu voller Entschädigung der Exprv- priirten." Man sieht, das Eigentum ist ihm nicht unbedingt heilig, es ist aber natürlich anch nicht — wie die ins Blödsinnige getriebne Gegenströmung will — Diebstahl. Fünf Bedingungen werden genannt, deren Zusammentreffen der Idee einer allgemeinen Gütergemeinschaft besonders Vorschub leistet. 1. Ein schroffes Gegenüberstehen von Reich und Arm, wo auf der einen Seite der Stolz, auf der andern Hoffnungslosigkeit und Neid zur schlimmsten Verbitterung führen müssen. 2. Ein hoher Grad von Arbeitsteilung, sodaß der Zusammenhang von Verdienst und Lohn nur noch schwer zu übersehen ist. 3. Hohe Ansprüche der niedern Klassen infolge der übertriebnen demokratischen Prinzipien der Gleichheit und Volkssouveränität. 4. Erschütterung des öffentlichen Rechts-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/518>, abgerufen am 07.01.2025.