Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Lelllimys Gleichheit leuchtet werden, mit seinen gold- und marmorstrahlenden Räumen feenhaft, Nur eins findet West bei seinen Streifereien unverändert: inmitten eines Grenzbotcn I 1898 M
Lelllimys Gleichheit leuchtet werden, mit seinen gold- und marmorstrahlenden Räumen feenhaft, Nur eins findet West bei seinen Streifereien unverändert: inmitten eines Grenzbotcn I 1898 M
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0437" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227339"/> <fw type="header" place="top"> Lelllimys Gleichheit</fw><lb/> <p xml:id="ID_1549" prev="#ID_1548"> leuchtet werden, mit seinen gold- und marmorstrahlenden Räumen feenhaft,<lb/> obgleich es sich um eines der ältern Bäder handelt, das die Bostoner den<lb/> modernen Gebäuden dieser Art gegenüber für ziemlich untergeordnet halten.<lb/> Die Aufgabe des Arztes ist sehr erleichtert worden dadurch, daß fast alle ge-<lb/> sundheitsfeiudlicheu Arbeits- und Lebensbedingungen verschwunden und die<lb/> Einsicht in medizinische und gesundheitliche Fragen bei der Bildung aller<lb/> allgemein verbreitet ist. Kurz: alles hat sich gewaltig umgestaltet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1550" next="#ID_1551"> Nur eins findet West bei seinen Streifereien unverändert: inmitten eines<lb/> wundervollen Parkes erhebt sich eine der schmutzigen stinkiger Mietkasernen,<lb/> wie sie am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts im Norden Bostons von<lb/> den Großkapitalisten fiir Arbeiter gebaut wurden. Über dem Portale steht in<lb/> goldnen Buchstaben die Inschrift: „Diese Wohnung der Grausamkeit wird er¬<lb/> halten allen kommenden Geschlechtern zu warnender Erinnerung an die Herr¬<lb/> schaft der Reichen." In der Nähe steht Hnntingtons weltberühmte Gruppe<lb/> zu Ehren der wirtschaftlichen Gleichheit: die Streiker. Rücken gegen Rücken<lb/> stehen drei Männer in der Arbeiterkleidung des neunzehnten Jahrhnnders, vor<lb/> ihnen liegen weggeworfne Werkzeuge am Boden, in ihren Gesichtern drückt<lb/> jeder Muskel todentschlossene, verstockte Weigerung aus; über die Weiber zu<lb/> ihren Füßen mit hungernden Kindern im Arm sehen sie hinweg, das Auge<lb/> bohrend auf den Feind in der Ferne gerichtet. West wird mächtig ergriffen<lb/> von dem genialen, in unvergleichlicher Lebenswahrheit dastehenden Werke des<lb/> großen Bildhauers, wundert sich aber doch, daß man gerade Streiker, die un¬<lb/> gebildetsten und beschränktesten seiner frühern Zeitgenossen als Vertreter der<lb/> großen Idee darstellt, die dem neuen Gemeinwesen zu Grunde liegt, und die<lb/> die Wurzel des allgemeinen Überflusses, des üppigen Volkswohlstands ist. Er<lb/> meint, diese Leute hätten doch gar keine Ahnung gehabt von dem nun er¬<lb/> reichten Ziele, sie hätten gekämpft um ein paar Cents höhern Lohn, um einige<lb/> Minuten kürzere Arbeitszeit, oft sogar nur um die Wiederciustellung eines be¬<lb/> freundeten oder um die Entlassung eines mißliebigen Werkführers. Das ist<lb/> ganz richtig, meint Dr. Lende, aber die Milizen von Concord und Lexington<lb/> wußten im Jahre 1775 auch noch nicht, daß sie ihre Gewehre gegen die<lb/> monarchische Idee richtete», auch der dritte Stand in Frankreich wußte uicht,<lb/> als er 1789 in den Konvent einzog, daß sein Weg über die Trümmer eines<lb/> Thrones führen würde, und als die Bahnbrecher der englischen Freiheit be¬<lb/> gannen, sich dem Willen Karls des Ersten zu widersetzen, sahen sie ebenso<lb/> wenig voraus, daß sie gezwungen sein würden, ihm den Kopf abzuschlagen,<lb/> um deu ihrigen durchzusetzen. Wir ehren in ihnen die Vorläufer, die ersten<lb/> Märtyrer der Gesellschaftsarbeit und der wirtschaftlichen Gleichheit, sie waren<lb/> größere Helden als irgend ein Soldat, der in die Schlacht zog unter schmet¬<lb/> ternden Fanfaren und getragen von der Begeisterung seines Landes, denn diese<lb/> fochten mit Ruhmlosigkeit und Verachtung bedeckt, sie wußten, daß ihr Miß-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbotcn I 1898 M</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0437]
Lelllimys Gleichheit
leuchtet werden, mit seinen gold- und marmorstrahlenden Räumen feenhaft,
obgleich es sich um eines der ältern Bäder handelt, das die Bostoner den
modernen Gebäuden dieser Art gegenüber für ziemlich untergeordnet halten.
Die Aufgabe des Arztes ist sehr erleichtert worden dadurch, daß fast alle ge-
sundheitsfeiudlicheu Arbeits- und Lebensbedingungen verschwunden und die
Einsicht in medizinische und gesundheitliche Fragen bei der Bildung aller
allgemein verbreitet ist. Kurz: alles hat sich gewaltig umgestaltet.
Nur eins findet West bei seinen Streifereien unverändert: inmitten eines
wundervollen Parkes erhebt sich eine der schmutzigen stinkiger Mietkasernen,
wie sie am Ausgange des neunzehnten Jahrhunderts im Norden Bostons von
den Großkapitalisten fiir Arbeiter gebaut wurden. Über dem Portale steht in
goldnen Buchstaben die Inschrift: „Diese Wohnung der Grausamkeit wird er¬
halten allen kommenden Geschlechtern zu warnender Erinnerung an die Herr¬
schaft der Reichen." In der Nähe steht Hnntingtons weltberühmte Gruppe
zu Ehren der wirtschaftlichen Gleichheit: die Streiker. Rücken gegen Rücken
stehen drei Männer in der Arbeiterkleidung des neunzehnten Jahrhnnders, vor
ihnen liegen weggeworfne Werkzeuge am Boden, in ihren Gesichtern drückt
jeder Muskel todentschlossene, verstockte Weigerung aus; über die Weiber zu
ihren Füßen mit hungernden Kindern im Arm sehen sie hinweg, das Auge
bohrend auf den Feind in der Ferne gerichtet. West wird mächtig ergriffen
von dem genialen, in unvergleichlicher Lebenswahrheit dastehenden Werke des
großen Bildhauers, wundert sich aber doch, daß man gerade Streiker, die un¬
gebildetsten und beschränktesten seiner frühern Zeitgenossen als Vertreter der
großen Idee darstellt, die dem neuen Gemeinwesen zu Grunde liegt, und die
die Wurzel des allgemeinen Überflusses, des üppigen Volkswohlstands ist. Er
meint, diese Leute hätten doch gar keine Ahnung gehabt von dem nun er¬
reichten Ziele, sie hätten gekämpft um ein paar Cents höhern Lohn, um einige
Minuten kürzere Arbeitszeit, oft sogar nur um die Wiederciustellung eines be¬
freundeten oder um die Entlassung eines mißliebigen Werkführers. Das ist
ganz richtig, meint Dr. Lende, aber die Milizen von Concord und Lexington
wußten im Jahre 1775 auch noch nicht, daß sie ihre Gewehre gegen die
monarchische Idee richtete», auch der dritte Stand in Frankreich wußte uicht,
als er 1789 in den Konvent einzog, daß sein Weg über die Trümmer eines
Thrones führen würde, und als die Bahnbrecher der englischen Freiheit be¬
gannen, sich dem Willen Karls des Ersten zu widersetzen, sahen sie ebenso
wenig voraus, daß sie gezwungen sein würden, ihm den Kopf abzuschlagen,
um deu ihrigen durchzusetzen. Wir ehren in ihnen die Vorläufer, die ersten
Märtyrer der Gesellschaftsarbeit und der wirtschaftlichen Gleichheit, sie waren
größere Helden als irgend ein Soldat, der in die Schlacht zog unter schmet¬
ternden Fanfaren und getragen von der Begeisterung seines Landes, denn diese
fochten mit Ruhmlosigkeit und Verachtung bedeckt, sie wußten, daß ihr Miß-
Grenzbotcn I 1898 M
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |