Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Lokomotivführer den Eisenbahnminister für einen ganz unfähigen Mann hält
und sich die Ministerqualifikation zutraut (der Manu denkt nur: wenn der
Minister einmal ein paar Tage hinter einander zwölf bis sechzehn Stunden
Lokomotivfnhrerdienst hätte, so würde er manches anders einrichten), daß da¬
gegen in neuerer Zeit von sehr hoher Stelle aus über preußische Minister ver¬
nichtende Urteile gefüllt worden sind. Und war Badenis Befähigung dadurch
bewiesen, daß ihn sein Kaiser zur Leitung Cisleithaniens berief? Wie hat
doch der Kanzler Oxenstierna gesagt? Wie urteilen die drei Premierminister
Crispi, Giolitti und Nudini über einander? Wie urteilt Ammon selbst über
die Günstlingswirtschaft der großen Katharina und über die Panamiten unter
den französischen Ministern? Was nieint er zu der in deu parlamentarischen
Ländern üblichen Ministerstürzerei, die doch weder von Unterbeamten noch von
Proletariern betrieben wird? Und wie wird Friedrich Wilhelm IV. samt
seinen Ministern von berühmten Geschichtschreibern beurteilt, die der politischen
Richtung Ammons angehören? Er kann also wohl sagen: ich bin überzeugt,
daß im heutigen Baden, oder im heutigen Preußen, oder im heutigen deutschen
Reiche jeder Mann ans dem richtigen Platze steht, und daß für keinen hervor¬
ragenden Posten ein Bewerber gefunden werden kann, der dafür geeigneter
wäre, als sein jetziger Inhaber, aber er kann diesen Vorzug nicht der bestehenden
Gesellschaftsordnung gutschreiben, denn die ist dieselbe bei uns wie in Italien
und in Frankreich, im alten Preußen und im Rußland des vorigen Jahr¬
hunderts, und Crispi, Giolitti und Rndini sind wenigstens darin einig, daß
sie die Feinde dieser Ordnung mit Mitteln bekämpfen, die -- dem Scheine
nach -- weit kräftiger wirken als Bücher.

Ist es also falsch, daß die "Auslese" überall und immer unfehlbar deu
richtigen Mann an die richtige Stelle bringe, so ist es noch weit falscher, daß
alles, was unten zurückbleibt, nur Bodensatz und Abraum wäre, der nichts
brauchbares mehr enthielte, geschweige denn Talent oder gar Genie. Niemand
widerlegt diese Ansicht vollkommner, als Ammon selbst. Nach ihm sterben die
obern Klassen beständig ab und müssen aus dem Bauernstande ersetzt werden.
Nun war der Bauernstand im vorigen Jahrhundert, wo es noch kein Pro¬
letariat von Lohnarbeitern gab, der unterste Stand. Er war gedrückt und ver¬
achtet, er war unwissend, abergläubisch, stumpfsinnig und indolent. Wie aus
solchen Heloten unsre heutigen wohlhabenden, gebildeten, gemeinnützig und
politisch thätigen Bauern geworden sein können, vermag zwar Ammon nicht
zu erklären -- wir andern, die wir nicht an unveränderliche Ite und Idanten
glauben, wissen, daß sie es durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und den
Schulzwang samt den übrigen heutigen Bildungsmitteln geworden sind --,
aber gleichviel, er glaubt doch, daß in den Zuzüglern vom Lande die Gro߬
industriellen-, Professoren- und Ministerdeterminanten schlummern, die in der
dritten oder vierten Generation zum Vorschein kommen werden; denn daß die


Lokomotivführer den Eisenbahnminister für einen ganz unfähigen Mann hält
und sich die Ministerqualifikation zutraut (der Manu denkt nur: wenn der
Minister einmal ein paar Tage hinter einander zwölf bis sechzehn Stunden
Lokomotivfnhrerdienst hätte, so würde er manches anders einrichten), daß da¬
gegen in neuerer Zeit von sehr hoher Stelle aus über preußische Minister ver¬
nichtende Urteile gefüllt worden sind. Und war Badenis Befähigung dadurch
bewiesen, daß ihn sein Kaiser zur Leitung Cisleithaniens berief? Wie hat
doch der Kanzler Oxenstierna gesagt? Wie urteilen die drei Premierminister
Crispi, Giolitti und Nudini über einander? Wie urteilt Ammon selbst über
die Günstlingswirtschaft der großen Katharina und über die Panamiten unter
den französischen Ministern? Was nieint er zu der in deu parlamentarischen
Ländern üblichen Ministerstürzerei, die doch weder von Unterbeamten noch von
Proletariern betrieben wird? Und wie wird Friedrich Wilhelm IV. samt
seinen Ministern von berühmten Geschichtschreibern beurteilt, die der politischen
Richtung Ammons angehören? Er kann also wohl sagen: ich bin überzeugt,
daß im heutigen Baden, oder im heutigen Preußen, oder im heutigen deutschen
Reiche jeder Mann ans dem richtigen Platze steht, und daß für keinen hervor¬
ragenden Posten ein Bewerber gefunden werden kann, der dafür geeigneter
wäre, als sein jetziger Inhaber, aber er kann diesen Vorzug nicht der bestehenden
Gesellschaftsordnung gutschreiben, denn die ist dieselbe bei uns wie in Italien
und in Frankreich, im alten Preußen und im Rußland des vorigen Jahr¬
hunderts, und Crispi, Giolitti und Rndini sind wenigstens darin einig, daß
sie die Feinde dieser Ordnung mit Mitteln bekämpfen, die — dem Scheine
nach — weit kräftiger wirken als Bücher.

Ist es also falsch, daß die „Auslese" überall und immer unfehlbar deu
richtigen Mann an die richtige Stelle bringe, so ist es noch weit falscher, daß
alles, was unten zurückbleibt, nur Bodensatz und Abraum wäre, der nichts
brauchbares mehr enthielte, geschweige denn Talent oder gar Genie. Niemand
widerlegt diese Ansicht vollkommner, als Ammon selbst. Nach ihm sterben die
obern Klassen beständig ab und müssen aus dem Bauernstande ersetzt werden.
Nun war der Bauernstand im vorigen Jahrhundert, wo es noch kein Pro¬
letariat von Lohnarbeitern gab, der unterste Stand. Er war gedrückt und ver¬
achtet, er war unwissend, abergläubisch, stumpfsinnig und indolent. Wie aus
solchen Heloten unsre heutigen wohlhabenden, gebildeten, gemeinnützig und
politisch thätigen Bauern geworden sein können, vermag zwar Ammon nicht
zu erklären — wir andern, die wir nicht an unveränderliche Ite und Idanten
glauben, wissen, daß sie es durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und den
Schulzwang samt den übrigen heutigen Bildungsmitteln geworden sind —,
aber gleichviel, er glaubt doch, daß in den Zuzüglern vom Lande die Gro߬
industriellen-, Professoren- und Ministerdeterminanten schlummern, die in der
dritten oder vierten Generation zum Vorschein kommen werden; denn daß die


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0426" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227328"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1487" prev="#ID_1486"> Lokomotivführer den Eisenbahnminister für einen ganz unfähigen Mann hält<lb/>
und sich die Ministerqualifikation zutraut (der Manu denkt nur: wenn der<lb/>
Minister einmal ein paar Tage hinter einander zwölf bis sechzehn Stunden<lb/>
Lokomotivfnhrerdienst hätte, so würde er manches anders einrichten), daß da¬<lb/>
gegen in neuerer Zeit von sehr hoher Stelle aus über preußische Minister ver¬<lb/>
nichtende Urteile gefüllt worden sind. Und war Badenis Befähigung dadurch<lb/>
bewiesen, daß ihn sein Kaiser zur Leitung Cisleithaniens berief? Wie hat<lb/>
doch der Kanzler Oxenstierna gesagt? Wie urteilen die drei Premierminister<lb/>
Crispi, Giolitti und Nudini über einander? Wie urteilt Ammon selbst über<lb/>
die Günstlingswirtschaft der großen Katharina und über die Panamiten unter<lb/>
den französischen Ministern? Was nieint er zu der in deu parlamentarischen<lb/>
Ländern üblichen Ministerstürzerei, die doch weder von Unterbeamten noch von<lb/>
Proletariern betrieben wird? Und wie wird Friedrich Wilhelm IV. samt<lb/>
seinen Ministern von berühmten Geschichtschreibern beurteilt, die der politischen<lb/>
Richtung Ammons angehören? Er kann also wohl sagen: ich bin überzeugt,<lb/>
daß im heutigen Baden, oder im heutigen Preußen, oder im heutigen deutschen<lb/>
Reiche jeder Mann ans dem richtigen Platze steht, und daß für keinen hervor¬<lb/>
ragenden Posten ein Bewerber gefunden werden kann, der dafür geeigneter<lb/>
wäre, als sein jetziger Inhaber, aber er kann diesen Vorzug nicht der bestehenden<lb/>
Gesellschaftsordnung gutschreiben, denn die ist dieselbe bei uns wie in Italien<lb/>
und in Frankreich, im alten Preußen und im Rußland des vorigen Jahr¬<lb/>
hunderts, und Crispi, Giolitti und Rndini sind wenigstens darin einig, daß<lb/>
sie die Feinde dieser Ordnung mit Mitteln bekämpfen, die &#x2014; dem Scheine<lb/>
nach &#x2014; weit kräftiger wirken als Bücher.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1488" next="#ID_1489"> Ist es also falsch, daß die &#x201E;Auslese" überall und immer unfehlbar deu<lb/>
richtigen Mann an die richtige Stelle bringe, so ist es noch weit falscher, daß<lb/>
alles, was unten zurückbleibt, nur Bodensatz und Abraum wäre, der nichts<lb/>
brauchbares mehr enthielte, geschweige denn Talent oder gar Genie. Niemand<lb/>
widerlegt diese Ansicht vollkommner, als Ammon selbst. Nach ihm sterben die<lb/>
obern Klassen beständig ab und müssen aus dem Bauernstande ersetzt werden.<lb/>
Nun war der Bauernstand im vorigen Jahrhundert, wo es noch kein Pro¬<lb/>
letariat von Lohnarbeitern gab, der unterste Stand. Er war gedrückt und ver¬<lb/>
achtet, er war unwissend, abergläubisch, stumpfsinnig und indolent. Wie aus<lb/>
solchen Heloten unsre heutigen wohlhabenden, gebildeten, gemeinnützig und<lb/>
politisch thätigen Bauern geworden sein können, vermag zwar Ammon nicht<lb/>
zu erklären &#x2014; wir andern, die wir nicht an unveränderliche Ite und Idanten<lb/>
glauben, wissen, daß sie es durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und den<lb/>
Schulzwang samt den übrigen heutigen Bildungsmitteln geworden sind &#x2014;,<lb/>
aber gleichviel, er glaubt doch, daß in den Zuzüglern vom Lande die Gro߬<lb/>
industriellen-, Professoren- und Ministerdeterminanten schlummern, die in der<lb/>
dritten oder vierten Generation zum Vorschein kommen werden; denn daß die</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0426] Lokomotivführer den Eisenbahnminister für einen ganz unfähigen Mann hält und sich die Ministerqualifikation zutraut (der Manu denkt nur: wenn der Minister einmal ein paar Tage hinter einander zwölf bis sechzehn Stunden Lokomotivfnhrerdienst hätte, so würde er manches anders einrichten), daß da¬ gegen in neuerer Zeit von sehr hoher Stelle aus über preußische Minister ver¬ nichtende Urteile gefüllt worden sind. Und war Badenis Befähigung dadurch bewiesen, daß ihn sein Kaiser zur Leitung Cisleithaniens berief? Wie hat doch der Kanzler Oxenstierna gesagt? Wie urteilen die drei Premierminister Crispi, Giolitti und Nudini über einander? Wie urteilt Ammon selbst über die Günstlingswirtschaft der großen Katharina und über die Panamiten unter den französischen Ministern? Was nieint er zu der in deu parlamentarischen Ländern üblichen Ministerstürzerei, die doch weder von Unterbeamten noch von Proletariern betrieben wird? Und wie wird Friedrich Wilhelm IV. samt seinen Ministern von berühmten Geschichtschreibern beurteilt, die der politischen Richtung Ammons angehören? Er kann also wohl sagen: ich bin überzeugt, daß im heutigen Baden, oder im heutigen Preußen, oder im heutigen deutschen Reiche jeder Mann ans dem richtigen Platze steht, und daß für keinen hervor¬ ragenden Posten ein Bewerber gefunden werden kann, der dafür geeigneter wäre, als sein jetziger Inhaber, aber er kann diesen Vorzug nicht der bestehenden Gesellschaftsordnung gutschreiben, denn die ist dieselbe bei uns wie in Italien und in Frankreich, im alten Preußen und im Rußland des vorigen Jahr¬ hunderts, und Crispi, Giolitti und Rndini sind wenigstens darin einig, daß sie die Feinde dieser Ordnung mit Mitteln bekämpfen, die — dem Scheine nach — weit kräftiger wirken als Bücher. Ist es also falsch, daß die „Auslese" überall und immer unfehlbar deu richtigen Mann an die richtige Stelle bringe, so ist es noch weit falscher, daß alles, was unten zurückbleibt, nur Bodensatz und Abraum wäre, der nichts brauchbares mehr enthielte, geschweige denn Talent oder gar Genie. Niemand widerlegt diese Ansicht vollkommner, als Ammon selbst. Nach ihm sterben die obern Klassen beständig ab und müssen aus dem Bauernstande ersetzt werden. Nun war der Bauernstand im vorigen Jahrhundert, wo es noch kein Pro¬ letariat von Lohnarbeitern gab, der unterste Stand. Er war gedrückt und ver¬ achtet, er war unwissend, abergläubisch, stumpfsinnig und indolent. Wie aus solchen Heloten unsre heutigen wohlhabenden, gebildeten, gemeinnützig und politisch thätigen Bauern geworden sein können, vermag zwar Ammon nicht zu erklären — wir andern, die wir nicht an unveränderliche Ite und Idanten glauben, wissen, daß sie es durch die Aufhebung der Leibeigenschaft und den Schulzwang samt den übrigen heutigen Bildungsmitteln geworden sind —, aber gleichviel, er glaubt doch, daß in den Zuzüglern vom Lande die Gro߬ industriellen-, Professoren- und Ministerdeterminanten schlummern, die in der dritten oder vierten Generation zum Vorschein kommen werden; denn daß die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/426
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/426>, abgerufen am 07.01.2025.