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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

großen Dichter und Komponisten haben sich aufs Geldmacher und Geldsparen
meistens sehr schlecht verstanden (viele ausübende Musiker und namentlich die
Sängerinnen desto besser), und Finanzgenies Pflegen sich nicht dnrch künstlerische
Begabung auszuzeichnen. Verhältnismäßig harmonische Genies wie Goethe
unter den Dichtern und Moltke unter den Feldherrn sind selten.

Wenn man ein Bild der Gesellschaft dergestalt in zwei Hälften teilen will,
daß eine wagerechte Linie die nützlichen, schaffenden Mitglieder von den un¬
nützen Schmarotzern und den Schädlingen scheidet, so bekommt man keines¬
wegs die Figur einer Doppclzwiebel. Vielmehr würde die Figur einer mit
Pflanzen bestandnen Humusschicht gleichen, aus deren Gräsern und Kräutern
Bäume der verschiedenste,: Art: die hochbegabten Menschen, hervorragten. Von
einer einheitlichen Spitze ist dabei weder auf der positiven noch auf der negativen
Seite die Rede: der Despot, der Intrigant, der Verbrecher und der Schwach¬
sinnige stehen ebenso weit von einander ab wie etwa Goethe und Bismarck
oder Beethoven und der Freiherr von Stein. Aber die Giftpflanzen wachsen
ja überhaupt nicht abwärts in die Erde hinein, daher ist es ganz unmöglich,
das Zahlenverhältnis der positiven und der negativen Bestandteile der Gesell¬
schaft geometrisch darzustellen; sie wachsen eben wie Fruchtbäume und Gift¬
pflanzen, wie Weizen und Unkraut durch einander, und bei vielen weiß man
gar nicht einmal, ob man sie zu der einen oder zu der andern Klasse rechnen
soll, weil sie thatsächlich beiden Klassen angehören, sowohl aufbauend wie zer¬
störend thätig sind. Ammon übersieht alle diese Schwierigkeiten, weil er gar
nicht an das Leben, sondern immer nur an die Amtsstube denkt. "Die Gesell¬
schaftsordnung, meint er, verdient keinen Vorwurf, wenn sie verbummelten
Talenten oder verkannten Genies oder ungeschickten Biedermännern den Weg
verlegt, denn an wichtigen Posten kann man nur Persönlichkeiten brauchen,
die in jeder der hauptsächlichen Anlagegruppen hervorragend begabt sind."
Als ob alle Forscher und Künstler, die es nicht im Staatsdienst zur Exzellenz
bringen, verbummelte Talente und verkannte Genies wären! Wie weit hat es
denn Kepler gebracht, und was hat denn Spinoza für ein Staatsamt be¬
kleidet?

Die Darstellung Ammons läuft auf die Behauptung hinaus, daß die hohe
Stellung eiues Mannes seine hohe Befähigung, die niedrige Stellung seinen
Mangel an Befähigung beweise, daß alle, die oben zu sein verdienen, auch
wirklich nach oben gelangten, daß alles, was unten bleibt, Schund und Bodensatz
sei, und daß es in den Massen Talente, denen die Möglichkeit, sich zu ent¬
falten, gefehlt hätte, nicht gebe. Er führt zur Bekräftigung seiner Ansicht noch
die Thatsache an, daß zwar Unterbeamte auf ihre Vorgesetzten schimpften und
überzeugt seien, sie würden an deren Stelle alles weit besser machen, daß da¬
gegen ein Kollegialmitglied selten einen Minister für einen ganz unbegabten
Mann halten werde. Dagegen ist nun zunächst zu sagen, daß sicherlich kein


Sozialauslese

großen Dichter und Komponisten haben sich aufs Geldmacher und Geldsparen
meistens sehr schlecht verstanden (viele ausübende Musiker und namentlich die
Sängerinnen desto besser), und Finanzgenies Pflegen sich nicht dnrch künstlerische
Begabung auszuzeichnen. Verhältnismäßig harmonische Genies wie Goethe
unter den Dichtern und Moltke unter den Feldherrn sind selten.

Wenn man ein Bild der Gesellschaft dergestalt in zwei Hälften teilen will,
daß eine wagerechte Linie die nützlichen, schaffenden Mitglieder von den un¬
nützen Schmarotzern und den Schädlingen scheidet, so bekommt man keines¬
wegs die Figur einer Doppclzwiebel. Vielmehr würde die Figur einer mit
Pflanzen bestandnen Humusschicht gleichen, aus deren Gräsern und Kräutern
Bäume der verschiedenste,: Art: die hochbegabten Menschen, hervorragten. Von
einer einheitlichen Spitze ist dabei weder auf der positiven noch auf der negativen
Seite die Rede: der Despot, der Intrigant, der Verbrecher und der Schwach¬
sinnige stehen ebenso weit von einander ab wie etwa Goethe und Bismarck
oder Beethoven und der Freiherr von Stein. Aber die Giftpflanzen wachsen
ja überhaupt nicht abwärts in die Erde hinein, daher ist es ganz unmöglich,
das Zahlenverhältnis der positiven und der negativen Bestandteile der Gesell¬
schaft geometrisch darzustellen; sie wachsen eben wie Fruchtbäume und Gift¬
pflanzen, wie Weizen und Unkraut durch einander, und bei vielen weiß man
gar nicht einmal, ob man sie zu der einen oder zu der andern Klasse rechnen
soll, weil sie thatsächlich beiden Klassen angehören, sowohl aufbauend wie zer¬
störend thätig sind. Ammon übersieht alle diese Schwierigkeiten, weil er gar
nicht an das Leben, sondern immer nur an die Amtsstube denkt. „Die Gesell¬
schaftsordnung, meint er, verdient keinen Vorwurf, wenn sie verbummelten
Talenten oder verkannten Genies oder ungeschickten Biedermännern den Weg
verlegt, denn an wichtigen Posten kann man nur Persönlichkeiten brauchen,
die in jeder der hauptsächlichen Anlagegruppen hervorragend begabt sind."
Als ob alle Forscher und Künstler, die es nicht im Staatsdienst zur Exzellenz
bringen, verbummelte Talente und verkannte Genies wären! Wie weit hat es
denn Kepler gebracht, und was hat denn Spinoza für ein Staatsamt be¬
kleidet?

Die Darstellung Ammons läuft auf die Behauptung hinaus, daß die hohe
Stellung eiues Mannes seine hohe Befähigung, die niedrige Stellung seinen
Mangel an Befähigung beweise, daß alle, die oben zu sein verdienen, auch
wirklich nach oben gelangten, daß alles, was unten bleibt, Schund und Bodensatz
sei, und daß es in den Massen Talente, denen die Möglichkeit, sich zu ent¬
falten, gefehlt hätte, nicht gebe. Er führt zur Bekräftigung seiner Ansicht noch
die Thatsache an, daß zwar Unterbeamte auf ihre Vorgesetzten schimpften und
überzeugt seien, sie würden an deren Stelle alles weit besser machen, daß da¬
gegen ein Kollegialmitglied selten einen Minister für einen ganz unbegabten
Mann halten werde. Dagegen ist nun zunächst zu sagen, daß sicherlich kein


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[0425] Sozialauslese großen Dichter und Komponisten haben sich aufs Geldmacher und Geldsparen meistens sehr schlecht verstanden (viele ausübende Musiker und namentlich die Sängerinnen desto besser), und Finanzgenies Pflegen sich nicht dnrch künstlerische Begabung auszuzeichnen. Verhältnismäßig harmonische Genies wie Goethe unter den Dichtern und Moltke unter den Feldherrn sind selten. Wenn man ein Bild der Gesellschaft dergestalt in zwei Hälften teilen will, daß eine wagerechte Linie die nützlichen, schaffenden Mitglieder von den un¬ nützen Schmarotzern und den Schädlingen scheidet, so bekommt man keines¬ wegs die Figur einer Doppclzwiebel. Vielmehr würde die Figur einer mit Pflanzen bestandnen Humusschicht gleichen, aus deren Gräsern und Kräutern Bäume der verschiedenste,: Art: die hochbegabten Menschen, hervorragten. Von einer einheitlichen Spitze ist dabei weder auf der positiven noch auf der negativen Seite die Rede: der Despot, der Intrigant, der Verbrecher und der Schwach¬ sinnige stehen ebenso weit von einander ab wie etwa Goethe und Bismarck oder Beethoven und der Freiherr von Stein. Aber die Giftpflanzen wachsen ja überhaupt nicht abwärts in die Erde hinein, daher ist es ganz unmöglich, das Zahlenverhältnis der positiven und der negativen Bestandteile der Gesell¬ schaft geometrisch darzustellen; sie wachsen eben wie Fruchtbäume und Gift¬ pflanzen, wie Weizen und Unkraut durch einander, und bei vielen weiß man gar nicht einmal, ob man sie zu der einen oder zu der andern Klasse rechnen soll, weil sie thatsächlich beiden Klassen angehören, sowohl aufbauend wie zer¬ störend thätig sind. Ammon übersieht alle diese Schwierigkeiten, weil er gar nicht an das Leben, sondern immer nur an die Amtsstube denkt. „Die Gesell¬ schaftsordnung, meint er, verdient keinen Vorwurf, wenn sie verbummelten Talenten oder verkannten Genies oder ungeschickten Biedermännern den Weg verlegt, denn an wichtigen Posten kann man nur Persönlichkeiten brauchen, die in jeder der hauptsächlichen Anlagegruppen hervorragend begabt sind." Als ob alle Forscher und Künstler, die es nicht im Staatsdienst zur Exzellenz bringen, verbummelte Talente und verkannte Genies wären! Wie weit hat es denn Kepler gebracht, und was hat denn Spinoza für ein Staatsamt be¬ kleidet? Die Darstellung Ammons läuft auf die Behauptung hinaus, daß die hohe Stellung eiues Mannes seine hohe Befähigung, die niedrige Stellung seinen Mangel an Befähigung beweise, daß alle, die oben zu sein verdienen, auch wirklich nach oben gelangten, daß alles, was unten bleibt, Schund und Bodensatz sei, und daß es in den Massen Talente, denen die Möglichkeit, sich zu ent¬ falten, gefehlt hätte, nicht gebe. Er führt zur Bekräftigung seiner Ansicht noch die Thatsache an, daß zwar Unterbeamte auf ihre Vorgesetzten schimpften und überzeugt seien, sie würden an deren Stelle alles weit besser machen, daß da¬ gegen ein Kollegialmitglied selten einen Minister für einen ganz unbegabten Mann halten werde. Dagegen ist nun zunächst zu sagen, daß sicherlich kein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/425>, abgerufen am 08.01.2025.