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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

Zuzug vom Lande allesamt ausgestorben sein würden, denn die Zusammen¬
drängung der Menschen auf einen engen ummauerten Raum, der niemals eine
gründliche Reinigung von dem durch Menschen und Vieh erzeugten Unrat
erfuhr, und die ewigen Parteikämpfe, bei denen man sich gegenseitig die Köpfe
einschlug, hatten natürlich eine sehr hohe Sterblichkeit zur Folge, und außer¬
dem beförderte eine väterlich gesinnte Obrigkeit alljährlich eine ansehnliche Zahl
von Schelmen, Ketzern und politischen oder geschäftlichen Gegnern durch Strick,
Eisen und Feuer in ein besseres Jenseits. Das alles ist doch heute ein wenig
anders geworden. Aber wir bedürfen keiner weitschichtigen statistischen Unter¬
suchung, um zu erkennen, daß sich Ammon in der Hauptsache irrt. Er schreibt
S. 146: "Die Macht, welche in den höhern Ständen Raum schafft für die
Nachschübe von unten, ist der Tod. Wir haben bereits gesehen, daß der hohe
Adel fortwährend durch Aussterben ganzer Familien heimgesucht wird, und
das gleiche kaun von allen sozial bevorzugten Familien gesagt werden. Teils
sind es die Schädlichkeiten der sitzenden Lebensweise, teils die Folge der Über¬
anstrengung des Nervensystems, teils aber auch soziale Rücksichten, späte Heirat
und Beschränkung der Kinderzahl, welche das Erlöschen der Familien herbei¬
führen." Ferner S. 149: "Die höhern Stunde verfallen ganz zweifellos dem
Aussterben infolge der auf sie einwirkenden gesundheitswidrigen und sozialen
Faktoren. Eine Überfüllung der höhern Stände durch die Nachschübe von
unten entsteht daher nicht; im Gegenteil, die Nachschübe sind unumgänglich
notwendig, um jene fortwährend zu erneuern und aufzufrischen." Endlich
S. 182: "Es ist ein eigentümliches Zusammentreffen, daß innerhalb zweier
Generationen durchschnittlich auch die Gesundheit der in höhere Stellungen
beförderten Familien aufgebraucht ist, also das Schwinden des Talents mit
dem physischen Erlöschen der Familien selbst zusammenfällt." Das Aussterben
von Familien kann zweierlei Ursachen haben: eine hohe Mortalität, d. h. vor¬
zeitigen Tod der Familienglieder, und geringe Kinderzahl. Wenn die erste
Ursache in der Stadt in einem stärkern Maße wirkt als auf dem Lande, so
werden davon ganz gewiß nicht die Angehörigen der höhern Stände betroffen.
Die Unterschiede in der Sterblichkeit decken sich aber überhaupt nicht mit demi
Unterschiede von Stadt und Land, sondern sie find an die verschiednen Berufe
gebunden. Auch hier bedarf es keines großartigen statistischen Apparats.

Jedermann weiß, daß der Kohlenhüuer, der meist auf dem Lande lebt, ein
kurzlebiger Mensch ist, während der Ministerberuf zu den allergesündesten ge¬
hört, denn die Minister werden durchschnittlich sehr alt, nicht gerade darum,
weil sie Minister sind, sondern weil ihnen ihr Einkommen eine gesunde Lebens¬
weise ermöglicht und ihr Beruf sie nicht daran hindert. Oder man durch-
wandre den böhmischen Jndustriebezirk und sehe sich einerseits eine Gesellschaft
wohlgenährter Honoratioren mit ihren blühenden Gesichtern an, und andrer¬
seits die elenden Gestalten der Glasarbeiter, Spinner und Weber mit ihren


Sozialauslese

Zuzug vom Lande allesamt ausgestorben sein würden, denn die Zusammen¬
drängung der Menschen auf einen engen ummauerten Raum, der niemals eine
gründliche Reinigung von dem durch Menschen und Vieh erzeugten Unrat
erfuhr, und die ewigen Parteikämpfe, bei denen man sich gegenseitig die Köpfe
einschlug, hatten natürlich eine sehr hohe Sterblichkeit zur Folge, und außer¬
dem beförderte eine väterlich gesinnte Obrigkeit alljährlich eine ansehnliche Zahl
von Schelmen, Ketzern und politischen oder geschäftlichen Gegnern durch Strick,
Eisen und Feuer in ein besseres Jenseits. Das alles ist doch heute ein wenig
anders geworden. Aber wir bedürfen keiner weitschichtigen statistischen Unter¬
suchung, um zu erkennen, daß sich Ammon in der Hauptsache irrt. Er schreibt
S. 146: „Die Macht, welche in den höhern Ständen Raum schafft für die
Nachschübe von unten, ist der Tod. Wir haben bereits gesehen, daß der hohe
Adel fortwährend durch Aussterben ganzer Familien heimgesucht wird, und
das gleiche kaun von allen sozial bevorzugten Familien gesagt werden. Teils
sind es die Schädlichkeiten der sitzenden Lebensweise, teils die Folge der Über¬
anstrengung des Nervensystems, teils aber auch soziale Rücksichten, späte Heirat
und Beschränkung der Kinderzahl, welche das Erlöschen der Familien herbei¬
führen." Ferner S. 149: „Die höhern Stunde verfallen ganz zweifellos dem
Aussterben infolge der auf sie einwirkenden gesundheitswidrigen und sozialen
Faktoren. Eine Überfüllung der höhern Stände durch die Nachschübe von
unten entsteht daher nicht; im Gegenteil, die Nachschübe sind unumgänglich
notwendig, um jene fortwährend zu erneuern und aufzufrischen." Endlich
S. 182: „Es ist ein eigentümliches Zusammentreffen, daß innerhalb zweier
Generationen durchschnittlich auch die Gesundheit der in höhere Stellungen
beförderten Familien aufgebraucht ist, also das Schwinden des Talents mit
dem physischen Erlöschen der Familien selbst zusammenfällt." Das Aussterben
von Familien kann zweierlei Ursachen haben: eine hohe Mortalität, d. h. vor¬
zeitigen Tod der Familienglieder, und geringe Kinderzahl. Wenn die erste
Ursache in der Stadt in einem stärkern Maße wirkt als auf dem Lande, so
werden davon ganz gewiß nicht die Angehörigen der höhern Stände betroffen.
Die Unterschiede in der Sterblichkeit decken sich aber überhaupt nicht mit demi
Unterschiede von Stadt und Land, sondern sie find an die verschiednen Berufe
gebunden. Auch hier bedarf es keines großartigen statistischen Apparats.

Jedermann weiß, daß der Kohlenhüuer, der meist auf dem Lande lebt, ein
kurzlebiger Mensch ist, während der Ministerberuf zu den allergesündesten ge¬
hört, denn die Minister werden durchschnittlich sehr alt, nicht gerade darum,
weil sie Minister sind, sondern weil ihnen ihr Einkommen eine gesunde Lebens¬
weise ermöglicht und ihr Beruf sie nicht daran hindert. Oder man durch-
wandre den böhmischen Jndustriebezirk und sehe sich einerseits eine Gesellschaft
wohlgenährter Honoratioren mit ihren blühenden Gesichtern an, und andrer¬
seits die elenden Gestalten der Glasarbeiter, Spinner und Weber mit ihren


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[0418] Sozialauslese Zuzug vom Lande allesamt ausgestorben sein würden, denn die Zusammen¬ drängung der Menschen auf einen engen ummauerten Raum, der niemals eine gründliche Reinigung von dem durch Menschen und Vieh erzeugten Unrat erfuhr, und die ewigen Parteikämpfe, bei denen man sich gegenseitig die Köpfe einschlug, hatten natürlich eine sehr hohe Sterblichkeit zur Folge, und außer¬ dem beförderte eine väterlich gesinnte Obrigkeit alljährlich eine ansehnliche Zahl von Schelmen, Ketzern und politischen oder geschäftlichen Gegnern durch Strick, Eisen und Feuer in ein besseres Jenseits. Das alles ist doch heute ein wenig anders geworden. Aber wir bedürfen keiner weitschichtigen statistischen Unter¬ suchung, um zu erkennen, daß sich Ammon in der Hauptsache irrt. Er schreibt S. 146: „Die Macht, welche in den höhern Ständen Raum schafft für die Nachschübe von unten, ist der Tod. Wir haben bereits gesehen, daß der hohe Adel fortwährend durch Aussterben ganzer Familien heimgesucht wird, und das gleiche kaun von allen sozial bevorzugten Familien gesagt werden. Teils sind es die Schädlichkeiten der sitzenden Lebensweise, teils die Folge der Über¬ anstrengung des Nervensystems, teils aber auch soziale Rücksichten, späte Heirat und Beschränkung der Kinderzahl, welche das Erlöschen der Familien herbei¬ führen." Ferner S. 149: „Die höhern Stunde verfallen ganz zweifellos dem Aussterben infolge der auf sie einwirkenden gesundheitswidrigen und sozialen Faktoren. Eine Überfüllung der höhern Stände durch die Nachschübe von unten entsteht daher nicht; im Gegenteil, die Nachschübe sind unumgänglich notwendig, um jene fortwährend zu erneuern und aufzufrischen." Endlich S. 182: „Es ist ein eigentümliches Zusammentreffen, daß innerhalb zweier Generationen durchschnittlich auch die Gesundheit der in höhere Stellungen beförderten Familien aufgebraucht ist, also das Schwinden des Talents mit dem physischen Erlöschen der Familien selbst zusammenfällt." Das Aussterben von Familien kann zweierlei Ursachen haben: eine hohe Mortalität, d. h. vor¬ zeitigen Tod der Familienglieder, und geringe Kinderzahl. Wenn die erste Ursache in der Stadt in einem stärkern Maße wirkt als auf dem Lande, so werden davon ganz gewiß nicht die Angehörigen der höhern Stände betroffen. Die Unterschiede in der Sterblichkeit decken sich aber überhaupt nicht mit demi Unterschiede von Stadt und Land, sondern sie find an die verschiednen Berufe gebunden. Auch hier bedarf es keines großartigen statistischen Apparats. Jedermann weiß, daß der Kohlenhüuer, der meist auf dem Lande lebt, ein kurzlebiger Mensch ist, während der Ministerberuf zu den allergesündesten ge¬ hört, denn die Minister werden durchschnittlich sehr alt, nicht gerade darum, weil sie Minister sind, sondern weil ihnen ihr Einkommen eine gesunde Lebens¬ weise ermöglicht und ihr Beruf sie nicht daran hindert. Oder man durch- wandre den böhmischen Jndustriebezirk und sehe sich einerseits eine Gesellschaft wohlgenährter Honoratioren mit ihren blühenden Gesichtern an, und andrer¬ seits die elenden Gestalten der Glasarbeiter, Spinner und Weber mit ihren

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/418>, abgerufen am 08.01.2025.