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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialauslese

so ist in dieser Gedankenreihe nichts, was abgelehnt werden müßte, und man
könnte sich mit der vorstehenden kurzen Anzeige begnügen und allenfalls noch
hinzufügen, daß, wie das bei allen solchen Büchern zu sein pflegt, unter den
Verbesserungsvorschlägen des Verfassers einige sind, denen man beistimme, und
einige andre, die einem weniger gut gefallen. Aber das Buch dient einer
Tendenz, die uicht schon in diesem Grundriß, sondern erst in der Ausführung
hervortritt, und die ich nicht für ungefährlich halte. Sie trifft mit der des
in den Grenzboten schon wiederholt erwähnten Alexander Tille zusammen, un¬
geachtet der starken Meinungsuuterschiede in einzelnen wichtigen Punkten, die
zwischen diesen beiden Vertretern des Neudarwinismus bestehen, und ich möchte
daher den Gegenstand einmal etwas gründlicher erledigen, als es in den
Fragen an die Selektionisteu (im 40. Heft des Jahrgangs 1896) geschehen ist.

Bei Ammon fällt nun zunächst der seltsame Widerspruch auf, der schon
wiederholt hervorgehoben worden ist. Während er als das Ziel der Entwick¬
lung die Hervorbringung höherer Arten durch Zuchtwahl hinstellt und jeden
Eingriff in den Prozeß der natürlichen Auslese als eine Sünde gegen die
Natur verurteilt, findet er nach dem Vorgange der meisten Gelehrten seiner
Schule, daß der Ausleseprozeß unter den Menschen zur Vernichtung der edelsten
Nasse, der langköpfigen Arier, führe. Im vorliegenden Buche erscheint dieser
Widerspruch in der Fassung: die gesellschaftliche Auslese befördert die Besten
und Fähigsten (die nach Ammon natürlich Arier oder wenigstens Halbarier
sind) an die höchsten Stellen, um sie dort aufzureiben. Dieser Widerspruch
wäre unbegreiflich (denn Ammon müßte doch auf Grund seines allerdings sehr
anfechtbaren historischen und statistischen Materials zu der Folgerung kommen,
daß der Naturprozeß schlecht wirke und ins Verderben führe), wenn man nicht
merkte, daß ihm seine Tendenz diesen schlimmen Streich spielt. Er ist nämlich
entrüstet über die Vorwürfe, die gegen die höher" Stunde erhoben werden,
und will beweisen, daß deren Mitglieder im allgemeinen die Stellen, die sie
einnehmen, ebenso verdienen, wie das Einkommen, das sie beziehen. Im Eifer
gegen die Umstürzler nun, die ja in der That dadurch sündigen, daß sie auf
die Unfähigkeit und UnWürdigkeit einzelner Vornehmen ein Verdammungsurteil
über alles Hochstehende gründen, im Kampfeseifer gegen diese Verallgemeinerer
schießt er seinerseits über das Ziel hinaus und macht aus allen Adlichen,
Rentnern, Unternehmern und akademisch Gebildeten Tugendhelden, die sich im
Dienste des Vaterlands aufreiben. Er stützt sich dabei auf Hansen, der in
seinem Buche über die drei Bevölkerungsstufen u. a. darstellt, wie die Stadt
ihre Bewohner frißt und auf Ergänzung durch ländlichen Zuzug angewiesen
ist. Es mag ununtersucht bleiben, ob Ammon Hansens Meinung genau wieder¬
giebt, und ob das, was von der mittelalterlichen Stadt gilt, ohne weiteres
auf die moderne übertragen werden kann. Von den mittelalterlichen Städten,
Deutschlands wenigstens, scheint es festzustehen, daß sie ohne den beständigen


Sozialauslese

so ist in dieser Gedankenreihe nichts, was abgelehnt werden müßte, und man
könnte sich mit der vorstehenden kurzen Anzeige begnügen und allenfalls noch
hinzufügen, daß, wie das bei allen solchen Büchern zu sein pflegt, unter den
Verbesserungsvorschlägen des Verfassers einige sind, denen man beistimme, und
einige andre, die einem weniger gut gefallen. Aber das Buch dient einer
Tendenz, die uicht schon in diesem Grundriß, sondern erst in der Ausführung
hervortritt, und die ich nicht für ungefährlich halte. Sie trifft mit der des
in den Grenzboten schon wiederholt erwähnten Alexander Tille zusammen, un¬
geachtet der starken Meinungsuuterschiede in einzelnen wichtigen Punkten, die
zwischen diesen beiden Vertretern des Neudarwinismus bestehen, und ich möchte
daher den Gegenstand einmal etwas gründlicher erledigen, als es in den
Fragen an die Selektionisteu (im 40. Heft des Jahrgangs 1896) geschehen ist.

Bei Ammon fällt nun zunächst der seltsame Widerspruch auf, der schon
wiederholt hervorgehoben worden ist. Während er als das Ziel der Entwick¬
lung die Hervorbringung höherer Arten durch Zuchtwahl hinstellt und jeden
Eingriff in den Prozeß der natürlichen Auslese als eine Sünde gegen die
Natur verurteilt, findet er nach dem Vorgange der meisten Gelehrten seiner
Schule, daß der Ausleseprozeß unter den Menschen zur Vernichtung der edelsten
Nasse, der langköpfigen Arier, führe. Im vorliegenden Buche erscheint dieser
Widerspruch in der Fassung: die gesellschaftliche Auslese befördert die Besten
und Fähigsten (die nach Ammon natürlich Arier oder wenigstens Halbarier
sind) an die höchsten Stellen, um sie dort aufzureiben. Dieser Widerspruch
wäre unbegreiflich (denn Ammon müßte doch auf Grund seines allerdings sehr
anfechtbaren historischen und statistischen Materials zu der Folgerung kommen,
daß der Naturprozeß schlecht wirke und ins Verderben führe), wenn man nicht
merkte, daß ihm seine Tendenz diesen schlimmen Streich spielt. Er ist nämlich
entrüstet über die Vorwürfe, die gegen die höher» Stunde erhoben werden,
und will beweisen, daß deren Mitglieder im allgemeinen die Stellen, die sie
einnehmen, ebenso verdienen, wie das Einkommen, das sie beziehen. Im Eifer
gegen die Umstürzler nun, die ja in der That dadurch sündigen, daß sie auf
die Unfähigkeit und UnWürdigkeit einzelner Vornehmen ein Verdammungsurteil
über alles Hochstehende gründen, im Kampfeseifer gegen diese Verallgemeinerer
schießt er seinerseits über das Ziel hinaus und macht aus allen Adlichen,
Rentnern, Unternehmern und akademisch Gebildeten Tugendhelden, die sich im
Dienste des Vaterlands aufreiben. Er stützt sich dabei auf Hansen, der in
seinem Buche über die drei Bevölkerungsstufen u. a. darstellt, wie die Stadt
ihre Bewohner frißt und auf Ergänzung durch ländlichen Zuzug angewiesen
ist. Es mag ununtersucht bleiben, ob Ammon Hansens Meinung genau wieder¬
giebt, und ob das, was von der mittelalterlichen Stadt gilt, ohne weiteres
auf die moderne übertragen werden kann. Von den mittelalterlichen Städten,
Deutschlands wenigstens, scheint es festzustehen, daß sie ohne den beständigen


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[0417] Sozialauslese so ist in dieser Gedankenreihe nichts, was abgelehnt werden müßte, und man könnte sich mit der vorstehenden kurzen Anzeige begnügen und allenfalls noch hinzufügen, daß, wie das bei allen solchen Büchern zu sein pflegt, unter den Verbesserungsvorschlägen des Verfassers einige sind, denen man beistimme, und einige andre, die einem weniger gut gefallen. Aber das Buch dient einer Tendenz, die uicht schon in diesem Grundriß, sondern erst in der Ausführung hervortritt, und die ich nicht für ungefährlich halte. Sie trifft mit der des in den Grenzboten schon wiederholt erwähnten Alexander Tille zusammen, un¬ geachtet der starken Meinungsuuterschiede in einzelnen wichtigen Punkten, die zwischen diesen beiden Vertretern des Neudarwinismus bestehen, und ich möchte daher den Gegenstand einmal etwas gründlicher erledigen, als es in den Fragen an die Selektionisteu (im 40. Heft des Jahrgangs 1896) geschehen ist. Bei Ammon fällt nun zunächst der seltsame Widerspruch auf, der schon wiederholt hervorgehoben worden ist. Während er als das Ziel der Entwick¬ lung die Hervorbringung höherer Arten durch Zuchtwahl hinstellt und jeden Eingriff in den Prozeß der natürlichen Auslese als eine Sünde gegen die Natur verurteilt, findet er nach dem Vorgange der meisten Gelehrten seiner Schule, daß der Ausleseprozeß unter den Menschen zur Vernichtung der edelsten Nasse, der langköpfigen Arier, führe. Im vorliegenden Buche erscheint dieser Widerspruch in der Fassung: die gesellschaftliche Auslese befördert die Besten und Fähigsten (die nach Ammon natürlich Arier oder wenigstens Halbarier sind) an die höchsten Stellen, um sie dort aufzureiben. Dieser Widerspruch wäre unbegreiflich (denn Ammon müßte doch auf Grund seines allerdings sehr anfechtbaren historischen und statistischen Materials zu der Folgerung kommen, daß der Naturprozeß schlecht wirke und ins Verderben führe), wenn man nicht merkte, daß ihm seine Tendenz diesen schlimmen Streich spielt. Er ist nämlich entrüstet über die Vorwürfe, die gegen die höher» Stunde erhoben werden, und will beweisen, daß deren Mitglieder im allgemeinen die Stellen, die sie einnehmen, ebenso verdienen, wie das Einkommen, das sie beziehen. Im Eifer gegen die Umstürzler nun, die ja in der That dadurch sündigen, daß sie auf die Unfähigkeit und UnWürdigkeit einzelner Vornehmen ein Verdammungsurteil über alles Hochstehende gründen, im Kampfeseifer gegen diese Verallgemeinerer schießt er seinerseits über das Ziel hinaus und macht aus allen Adlichen, Rentnern, Unternehmern und akademisch Gebildeten Tugendhelden, die sich im Dienste des Vaterlands aufreiben. Er stützt sich dabei auf Hansen, der in seinem Buche über die drei Bevölkerungsstufen u. a. darstellt, wie die Stadt ihre Bewohner frißt und auf Ergänzung durch ländlichen Zuzug angewiesen ist. Es mag ununtersucht bleiben, ob Ammon Hansens Meinung genau wieder¬ giebt, und ob das, was von der mittelalterlichen Stadt gilt, ohne weiteres auf die moderne übertragen werden kann. Von den mittelalterlichen Städten, Deutschlands wenigstens, scheint es festzustehen, daß sie ohne den beständigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/417>, abgerufen am 07.01.2025.