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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Das deutsche Dorfwirtshaus

genüge geleistet war, das nur dem "Reisenden" am Sonntag geistiges Getränk ge¬
stattet, durch die Thürspalte die gewünschte Erfrischung, in der Siegel ein Schnaps,
herauswanderte. Ich bin sonst ein Verehrer der englischen Sonntagsruhe; soweit
sie den Lärm der Städte zur Ruhe bringt, ist sie eine körperliche, moralische und
ästhetische Wohlthat. Aber wenn sie dem Städter die ländliche Erholung ver¬
schließt, übt sie einen thörichten und grausamen Zwang aus. In England ist nun
die Umgehung des Verbotes, am Sonntag Erfrischungen zu verkaufe", auf
den sinnreichsten Wegen möglich, die dem anglokeltischen Erfindungsgeist ein
glänzendes Zeugnis ausstellen- Auch in einem Temperenzstaate Nordamerikas,
wo man noch nicht so weit war, begegnete es mir vor einigen Jahren, daß
ich mit einem Lokalzug, der Sonntagsruhe hatte, bis zu einer einsamen Wald¬
station fuhr. Da hieß es nun den Sonntag zubringen. Um das trockne
Biskuit und den salzigen Speck möglichst gut anzufeuchten, wanderte man zur
nächsten Ansiedelung, wo der Arzt sür solche Fälle den erschöpften Reisenden
eine beliebige Menge Bier oder Wein verschreibt, genau in der hergebrachten
Rezeptform, aber zu etwas billigern Taxen. Ich dachte an den alten Pro¬
visorenwitz: lieoixö se misvs: Stiefelwichs se mo! roh-nun. Der Jünger der
Heilkunde holt die Arzenei aus seinem kühlen Medizinalkeller und ist gern
bereit, dem Reisenden bei ihrer Vertilgung Gesellschaft zu leisten, natürlich
in einem der Straße möglichst abgewandten dunkeln Zimmer, das sich zum
sonntäglichen Kneiplokal zahlungsfähiger Nachbarn entwickelt hat. Also hier
machen die Sonntagsgesetze den Arzt zum Bierwirt!

Ich ziehe die andre Verbindung des gastwirtlichen und ärztlichen Berufes
vor, die sich ganz von selbst aus der Natur des Gasthauses als Rast- und
Erholungshaus ergiebt. Sie ist ebenso wahr und menschlich, wie jene
amerikanische verlogen und verzerrt ist. Was ist das Haus des Wirtes für
so manchen Kranken, der fern von der Heimat Genesung sucht! Wieviele
Werke der Barmherzigkeit werden jahraus jahrein von den Wirten, ihren
Familien und Bediensteten plötzlich Erkrankten oder, besonders im Gebirge, Verun¬
glückten geleistet! Auf einzelne Fälle, in denen übermäßige Rechnungen dafür
geschrieben werden, kommen zahllose Samariterdienste, von denen nichts bekannt
wird. In den zahlreichen Bädern, Kurorten und Kuranstalten Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz zeigt sich die hospizartige Funktion des Wirts¬
hauses von der besten Seite. Sie gliedert sich hier allerdings einer großen
Reihe von Vorkehrungen zum Wohl und Wohlbehagen leidender und gesunder
Menschen ein. Doch'erreicht gerade in unsern Badeorten das deutsche Wirts¬
haus einen seiner Höhepunkte. Wenn die Entwicklung eines Baden-Baden
oder Wiesbaden überhaupt eine bewundernswerte Leistung der Fürsorglichkeit,
der Intelligenz und des Schönheitssinnes ist. so tragen die großen inter¬
nationalen Hotels an solchen Plätzen neben den andern Anlagen und Bauten
eben soviel dazu bei, wie in den kleinern Bädern die bescheidnen Badegast-


Grenzboten I t"98
Das deutsche Dorfwirtshaus

genüge geleistet war, das nur dem „Reisenden" am Sonntag geistiges Getränk ge¬
stattet, durch die Thürspalte die gewünschte Erfrischung, in der Siegel ein Schnaps,
herauswanderte. Ich bin sonst ein Verehrer der englischen Sonntagsruhe; soweit
sie den Lärm der Städte zur Ruhe bringt, ist sie eine körperliche, moralische und
ästhetische Wohlthat. Aber wenn sie dem Städter die ländliche Erholung ver¬
schließt, übt sie einen thörichten und grausamen Zwang aus. In England ist nun
die Umgehung des Verbotes, am Sonntag Erfrischungen zu verkaufe», auf
den sinnreichsten Wegen möglich, die dem anglokeltischen Erfindungsgeist ein
glänzendes Zeugnis ausstellen- Auch in einem Temperenzstaate Nordamerikas,
wo man noch nicht so weit war, begegnete es mir vor einigen Jahren, daß
ich mit einem Lokalzug, der Sonntagsruhe hatte, bis zu einer einsamen Wald¬
station fuhr. Da hieß es nun den Sonntag zubringen. Um das trockne
Biskuit und den salzigen Speck möglichst gut anzufeuchten, wanderte man zur
nächsten Ansiedelung, wo der Arzt sür solche Fälle den erschöpften Reisenden
eine beliebige Menge Bier oder Wein verschreibt, genau in der hergebrachten
Rezeptform, aber zu etwas billigern Taxen. Ich dachte an den alten Pro¬
visorenwitz: lieoixö se misvs: Stiefelwichs se mo! roh-nun. Der Jünger der
Heilkunde holt die Arzenei aus seinem kühlen Medizinalkeller und ist gern
bereit, dem Reisenden bei ihrer Vertilgung Gesellschaft zu leisten, natürlich
in einem der Straße möglichst abgewandten dunkeln Zimmer, das sich zum
sonntäglichen Kneiplokal zahlungsfähiger Nachbarn entwickelt hat. Also hier
machen die Sonntagsgesetze den Arzt zum Bierwirt!

Ich ziehe die andre Verbindung des gastwirtlichen und ärztlichen Berufes
vor, die sich ganz von selbst aus der Natur des Gasthauses als Rast- und
Erholungshaus ergiebt. Sie ist ebenso wahr und menschlich, wie jene
amerikanische verlogen und verzerrt ist. Was ist das Haus des Wirtes für
so manchen Kranken, der fern von der Heimat Genesung sucht! Wieviele
Werke der Barmherzigkeit werden jahraus jahrein von den Wirten, ihren
Familien und Bediensteten plötzlich Erkrankten oder, besonders im Gebirge, Verun¬
glückten geleistet! Auf einzelne Fälle, in denen übermäßige Rechnungen dafür
geschrieben werden, kommen zahllose Samariterdienste, von denen nichts bekannt
wird. In den zahlreichen Bädern, Kurorten und Kuranstalten Deutschlands,
Österreichs und der Schweiz zeigt sich die hospizartige Funktion des Wirts¬
hauses von der besten Seite. Sie gliedert sich hier allerdings einer großen
Reihe von Vorkehrungen zum Wohl und Wohlbehagen leidender und gesunder
Menschen ein. Doch'erreicht gerade in unsern Badeorten das deutsche Wirts¬
haus einen seiner Höhepunkte. Wenn die Entwicklung eines Baden-Baden
oder Wiesbaden überhaupt eine bewundernswerte Leistung der Fürsorglichkeit,
der Intelligenz und des Schönheitssinnes ist. so tragen die großen inter¬
nationalen Hotels an solchen Plätzen neben den andern Anlagen und Bauten
eben soviel dazu bei, wie in den kleinern Bädern die bescheidnen Badegast-


Grenzboten I t«98
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[0041] Das deutsche Dorfwirtshaus genüge geleistet war, das nur dem „Reisenden" am Sonntag geistiges Getränk ge¬ stattet, durch die Thürspalte die gewünschte Erfrischung, in der Siegel ein Schnaps, herauswanderte. Ich bin sonst ein Verehrer der englischen Sonntagsruhe; soweit sie den Lärm der Städte zur Ruhe bringt, ist sie eine körperliche, moralische und ästhetische Wohlthat. Aber wenn sie dem Städter die ländliche Erholung ver¬ schließt, übt sie einen thörichten und grausamen Zwang aus. In England ist nun die Umgehung des Verbotes, am Sonntag Erfrischungen zu verkaufe», auf den sinnreichsten Wegen möglich, die dem anglokeltischen Erfindungsgeist ein glänzendes Zeugnis ausstellen- Auch in einem Temperenzstaate Nordamerikas, wo man noch nicht so weit war, begegnete es mir vor einigen Jahren, daß ich mit einem Lokalzug, der Sonntagsruhe hatte, bis zu einer einsamen Wald¬ station fuhr. Da hieß es nun den Sonntag zubringen. Um das trockne Biskuit und den salzigen Speck möglichst gut anzufeuchten, wanderte man zur nächsten Ansiedelung, wo der Arzt sür solche Fälle den erschöpften Reisenden eine beliebige Menge Bier oder Wein verschreibt, genau in der hergebrachten Rezeptform, aber zu etwas billigern Taxen. Ich dachte an den alten Pro¬ visorenwitz: lieoixö se misvs: Stiefelwichs se mo! roh-nun. Der Jünger der Heilkunde holt die Arzenei aus seinem kühlen Medizinalkeller und ist gern bereit, dem Reisenden bei ihrer Vertilgung Gesellschaft zu leisten, natürlich in einem der Straße möglichst abgewandten dunkeln Zimmer, das sich zum sonntäglichen Kneiplokal zahlungsfähiger Nachbarn entwickelt hat. Also hier machen die Sonntagsgesetze den Arzt zum Bierwirt! Ich ziehe die andre Verbindung des gastwirtlichen und ärztlichen Berufes vor, die sich ganz von selbst aus der Natur des Gasthauses als Rast- und Erholungshaus ergiebt. Sie ist ebenso wahr und menschlich, wie jene amerikanische verlogen und verzerrt ist. Was ist das Haus des Wirtes für so manchen Kranken, der fern von der Heimat Genesung sucht! Wieviele Werke der Barmherzigkeit werden jahraus jahrein von den Wirten, ihren Familien und Bediensteten plötzlich Erkrankten oder, besonders im Gebirge, Verun¬ glückten geleistet! Auf einzelne Fälle, in denen übermäßige Rechnungen dafür geschrieben werden, kommen zahllose Samariterdienste, von denen nichts bekannt wird. In den zahlreichen Bädern, Kurorten und Kuranstalten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz zeigt sich die hospizartige Funktion des Wirts¬ hauses von der besten Seite. Sie gliedert sich hier allerdings einer großen Reihe von Vorkehrungen zum Wohl und Wohlbehagen leidender und gesunder Menschen ein. Doch'erreicht gerade in unsern Badeorten das deutsche Wirts¬ haus einen seiner Höhepunkte. Wenn die Entwicklung eines Baden-Baden oder Wiesbaden überhaupt eine bewundernswerte Leistung der Fürsorglichkeit, der Intelligenz und des Schönheitssinnes ist. so tragen die großen inter¬ nationalen Hotels an solchen Plätzen neben den andern Anlagen und Bauten eben soviel dazu bei, wie in den kleinern Bädern die bescheidnen Badegast- Grenzboten I t«98

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/41>, abgerufen am 07.01.2025.