Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Geschlechter seit Jahrtausenden abgearbeitet, aber mehr als zwei Wege zum Ziel In der That ist im Großstaat eine starke Regierungsgewalt, mag sie nun von Maßgebliches und Unmaßgebliches Geschlechter seit Jahrtausenden abgearbeitet, aber mehr als zwei Wege zum Ziel In der That ist im Großstaat eine starke Regierungsgewalt, mag sie nun von <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0398" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227300"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1422" prev="#ID_1421"> Geschlechter seit Jahrtausenden abgearbeitet, aber mehr als zwei Wege zum Ziel<lb/> bis heute noch nicht gefunden. Der eine der beiden Wege führt zum orientalischen<lb/> Despotentum. Die Gottheit schenkt einem Monarchen Land und Leute und gießt<lb/> ihm die zum Regieren nötige Weisheit ein, entweder mit Hilfe einer Priesterzunft<lb/> oder unmittelbar. Dieser Monarch ist dann der Staat und steht über den Inter¬<lb/> essen aller seiner Unterthanen, die, wie ungleich sie auch sonst sein mögen, doch<lb/> als seine rechtlosen Knechte einander gleich sind. Stört nun ein Interessenkonflikt<lb/> die Ruhe des Staats, d. h. des Monarchen, so läßt er die beiden Streitenden<lb/> oder einen von ihnen einen Kopf kürzer machen, und die Ruhe ist wieder herge¬<lb/> stellt. Der andre Weg führt zum Kommunismus. Wenn die Interessen einander<lb/> entgegengesetzt sind, so kann es Maßregeln, die „allen zugleich förderlich" wären,<lb/> nicht geben. Soll also ein Staat möglich sein, der das Wohl aller gleichmäßig<lb/> fördert, so müssen die Interessengegensätze aufgehoben werden, und das ist eben<lb/> der Traum des Kommunismus. Offermann neigt mehr dem zweiten als dem ersten<lb/> Wege zu. wie man aus den Forderungen sieht, die er an die Staatsgewalt stellt.<lb/> Sie Werde das Recht des Privateigentums stark modifiziren müssen; es bedürfe<lb/> einer unablässig thätigen Gesetzgebung, nicht nur, um den Gegensatz der Bildung<lb/> zwischen Besitzern und Nichtbesitzeuden zu mildern, sondern auch, um den Arbeitern<lb/> die Ansammlung eignen Kapitals zu erleichtern und ein menschenwürdiges Dasein<lb/> zu sichern (S. 67). Als höchste Aufgabe des Staats bezeichnet er „die Herstellung<lb/> gleicher Bedingungen für alle persönliche Entwicklung." Erst nach „gänzlicher Los¬<lb/> lösung der Staatsidee von der Gesellschaft" könne der Staat den Grundsatz „der<lb/> freien Klassenbewegung verwirklichen, d. h. den Übergang der einzelnen aus der<lb/> einen Klasse in die andre in die Kraft und Selbstbestimmung des eignen Willens<lb/> und der eignen That der Person verlegen. Geburt oder zünftige Organisation der<lb/> Arbeit dürfen keine Hindernisse mehr bilden" (S. 71). Man sieht da wieder<lb/> einmal, wie es nicht dasselbe ist, wenn zwei dasselbe sagen. Offermann fordert<lb/> als Anfang der Besserung vor allem ein starkes Königtum; andre Leute fordern<lb/> das auch, aber sie denken dabei etwas ganz andres.</p><lb/> <p xml:id="ID_1423" next="#ID_1424"> In der That ist im Großstaat eine starke Regierungsgewalt, mag sie nun von<lb/> einem Erblönig oder von einem gewählten Diktator geübt werden, unentbehrlich.<lb/> Ob aber selbst der sähigste Regent die idealen Aufgaben zu lösen vermag, die ihm<lb/> Offermann zuweist, ist eine andre Frage. Man wird zufrieden sein können, wenn<lb/> es ihm gelingt, den Interessenkampf so weit in Schranken zu halten, daß er nicht<lb/> zur Auflösung des Staats führt. Sich streng über den Parteien zu halten, ganz<lb/> außerhalb des Parteikampfes zu stehen, wird ihm schwerlich gelingen, denn<lb/> um aufs Ganze einwirken zu können, muß er sich eines Teiles als Mittels<lb/> und Werkzeugs bedienen; eine Bureaukratie und ein Heer aber, die jede Fühlung<lb/> mit den Berufsständen verloren hätten, würden bald in einen feindlichen Gegensatz<lb/> zu diesen geraten, und wenn es zum Kriege zwischen Staat und Gesellschaft kommt,<lb/> so muß der Staat deu kürzern ziehen, denn er lebt von der Gesellschaft, während<lb/> diese nur ihre Ordnung von ihm empfängt; ohne Ordnung leben kann man allen¬<lb/> falls, aber nicht Ordnung halten ohne zu leben. Die heutigen Schwierigkeiten<lb/> rühren nicht von falschen Theorien her, sondern von der Größe und Volkszahl der<lb/> Staate» und von ihren verwickelten Verhältnissen, oder — wie man das heute<lb/> nennt — von der starken Differenzirung der Bildung, der Religionen, der Mei¬<lb/> nungen und vor allem der Vermögen und der Gewerbe. Offermann bemerkt ganz<lb/> richtig, daß im Mittelalter in England der Staat mit der Gesellschaft zusammen¬<lb/> gefallen sei, ohne daß das üble Folgen gehabt habe, und daß heute, wo im Pnrla-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0398]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Geschlechter seit Jahrtausenden abgearbeitet, aber mehr als zwei Wege zum Ziel
bis heute noch nicht gefunden. Der eine der beiden Wege führt zum orientalischen
Despotentum. Die Gottheit schenkt einem Monarchen Land und Leute und gießt
ihm die zum Regieren nötige Weisheit ein, entweder mit Hilfe einer Priesterzunft
oder unmittelbar. Dieser Monarch ist dann der Staat und steht über den Inter¬
essen aller seiner Unterthanen, die, wie ungleich sie auch sonst sein mögen, doch
als seine rechtlosen Knechte einander gleich sind. Stört nun ein Interessenkonflikt
die Ruhe des Staats, d. h. des Monarchen, so läßt er die beiden Streitenden
oder einen von ihnen einen Kopf kürzer machen, und die Ruhe ist wieder herge¬
stellt. Der andre Weg führt zum Kommunismus. Wenn die Interessen einander
entgegengesetzt sind, so kann es Maßregeln, die „allen zugleich förderlich" wären,
nicht geben. Soll also ein Staat möglich sein, der das Wohl aller gleichmäßig
fördert, so müssen die Interessengegensätze aufgehoben werden, und das ist eben
der Traum des Kommunismus. Offermann neigt mehr dem zweiten als dem ersten
Wege zu. wie man aus den Forderungen sieht, die er an die Staatsgewalt stellt.
Sie Werde das Recht des Privateigentums stark modifiziren müssen; es bedürfe
einer unablässig thätigen Gesetzgebung, nicht nur, um den Gegensatz der Bildung
zwischen Besitzern und Nichtbesitzeuden zu mildern, sondern auch, um den Arbeitern
die Ansammlung eignen Kapitals zu erleichtern und ein menschenwürdiges Dasein
zu sichern (S. 67). Als höchste Aufgabe des Staats bezeichnet er „die Herstellung
gleicher Bedingungen für alle persönliche Entwicklung." Erst nach „gänzlicher Los¬
lösung der Staatsidee von der Gesellschaft" könne der Staat den Grundsatz „der
freien Klassenbewegung verwirklichen, d. h. den Übergang der einzelnen aus der
einen Klasse in die andre in die Kraft und Selbstbestimmung des eignen Willens
und der eignen That der Person verlegen. Geburt oder zünftige Organisation der
Arbeit dürfen keine Hindernisse mehr bilden" (S. 71). Man sieht da wieder
einmal, wie es nicht dasselbe ist, wenn zwei dasselbe sagen. Offermann fordert
als Anfang der Besserung vor allem ein starkes Königtum; andre Leute fordern
das auch, aber sie denken dabei etwas ganz andres.
In der That ist im Großstaat eine starke Regierungsgewalt, mag sie nun von
einem Erblönig oder von einem gewählten Diktator geübt werden, unentbehrlich.
Ob aber selbst der sähigste Regent die idealen Aufgaben zu lösen vermag, die ihm
Offermann zuweist, ist eine andre Frage. Man wird zufrieden sein können, wenn
es ihm gelingt, den Interessenkampf so weit in Schranken zu halten, daß er nicht
zur Auflösung des Staats führt. Sich streng über den Parteien zu halten, ganz
außerhalb des Parteikampfes zu stehen, wird ihm schwerlich gelingen, denn
um aufs Ganze einwirken zu können, muß er sich eines Teiles als Mittels
und Werkzeugs bedienen; eine Bureaukratie und ein Heer aber, die jede Fühlung
mit den Berufsständen verloren hätten, würden bald in einen feindlichen Gegensatz
zu diesen geraten, und wenn es zum Kriege zwischen Staat und Gesellschaft kommt,
so muß der Staat deu kürzern ziehen, denn er lebt von der Gesellschaft, während
diese nur ihre Ordnung von ihm empfängt; ohne Ordnung leben kann man allen¬
falls, aber nicht Ordnung halten ohne zu leben. Die heutigen Schwierigkeiten
rühren nicht von falschen Theorien her, sondern von der Größe und Volkszahl der
Staate» und von ihren verwickelten Verhältnissen, oder — wie man das heute
nennt — von der starken Differenzirung der Bildung, der Religionen, der Mei¬
nungen und vor allem der Vermögen und der Gewerbe. Offermann bemerkt ganz
richtig, daß im Mittelalter in England der Staat mit der Gesellschaft zusammen¬
gefallen sei, ohne daß das üble Folgen gehabt habe, und daß heute, wo im Pnrla-
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