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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Der rechte Mann

bedeuten will, ohne jede Schwierigkeit mobilisirt werden konnte. Und da sollen
wir keine Interessen im Mittelmeer haben? Vielleicht keine territorialen, aber
sind sie denn in China wesentlich territorialer Art? An einen nahen Zerfall
der Türkei glauben wir freilich nicht recht. Die Auflösung des Reichs
in Europa wird allerdings wahrscheinlich weitere Fortschritte machen, weil es
eben unmöglich geworden ist, daß christliche Völker unter mohammedanischer
Herrschaft stehen, so wenig erbaulich die Zustände der befreiten Völker sein
mögen, und weil die Mohammedaner, Türken und Araber zusammen, zu schwach
an Volkszahl sind, um das ganze ungeheure Reich gegen rebellische Unter¬
thanen und auswärtige Angriffe mit den Waffen zu behaupten. Aber warum
sich ein türkisches Reich nicht in Asien erhalten sollte, wo die Mohammedaner
nicht das Herrenvolk, sondern den Stamm der Bevölkerung, die Christen kleine
verstreute Minderheiten bilden, warum Kleinasien notwendig russischer, Syrien
etwa französischer Herrschaft verfallen soll, das ist bei der unzweifelhaften
Tüchtigkeit, namentlich des Türkenvolks, nicht einzusehen. Es ist recht wohl
möglich, daß das osmanische Reich, wenn es im wesentlichen auf Asien und
in Europa etwa auf die Umgebung von Konstantinopel (das ja nicht Haupt¬
stadt zu bleiben brauchte und auch vor 1453 nicht gewesen ist) beschränkt
wäre, ein sehr haltbares Gebilde würde, zumal wenn es europäische Kultur¬
elemente in sich aufnähme, etwa wie Ägypten. Und warum sollte dabei Deutsch¬
land nach so glücklichen Anfängen nicht eine Hauptrolle spielen können? Denn
eine Vergrößerung unsrer beiden Nachbarmächte auf türkische Kosten liegt doch
wahrhaftig nicht in unserm Interesse. Der Gedanke, das teilweise so herrliche
und fruchtbare Kleinasien mit deutschem Kapital und deutscher Arbeit aus seiner
Verwahrlosung wieder emporzubringen, ist, nachdem ihn Ludwig Roß und
Heiland von Moltke schon vor mehr als sechzig Jahren zuerst ausgesprochen
haben, neuerdings wieder mit besondrer Lebhaftigkeit vertreten worden und hat
jetzt in zwei landkundigen jungen deutschen Offizieren in einem besondern
Werke beredte Verfechter gefunden.'") Sie geben keine zusammenhängende
Schilderung von Land und Leuten, vielmehr werden Tierleben, Kulturpflanzen,
Mineralschätze, Bodengestaltung und Gewässer des Landes im einzelnen mehr
vom naturgeschichtlichen Standpunkte aus dargestellt unter Hinzufügung ihrer
türkischen und griechischen Namen und nach ihrer praktischen Kulturbedeutung
besprochen, was natürlich auch zu manchen allgemeinern kulturgeschichtlich
interessanten Erörterungen und Schilderungen Veranlassung giebt, wie z. B.
über Viehzucht, Landbau, Seidenindustrie oder über den "Absentismus" der
türkischen Großgrundbesitzer Kleinasiens, der einen großen Teil der Schuld an



Kleinasiens Naturschätze vom wirtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Standpunkte. Von
Karl Kannenberg. Mit Beiträgen von Schäffer, Mit ZI (meist vorzüglichen) Bildern und
2 Plänen. Berlin, Gebr. Bornträger, 18"7. XU und 278 S,
Der rechte Mann

bedeuten will, ohne jede Schwierigkeit mobilisirt werden konnte. Und da sollen
wir keine Interessen im Mittelmeer haben? Vielleicht keine territorialen, aber
sind sie denn in China wesentlich territorialer Art? An einen nahen Zerfall
der Türkei glauben wir freilich nicht recht. Die Auflösung des Reichs
in Europa wird allerdings wahrscheinlich weitere Fortschritte machen, weil es
eben unmöglich geworden ist, daß christliche Völker unter mohammedanischer
Herrschaft stehen, so wenig erbaulich die Zustände der befreiten Völker sein
mögen, und weil die Mohammedaner, Türken und Araber zusammen, zu schwach
an Volkszahl sind, um das ganze ungeheure Reich gegen rebellische Unter¬
thanen und auswärtige Angriffe mit den Waffen zu behaupten. Aber warum
sich ein türkisches Reich nicht in Asien erhalten sollte, wo die Mohammedaner
nicht das Herrenvolk, sondern den Stamm der Bevölkerung, die Christen kleine
verstreute Minderheiten bilden, warum Kleinasien notwendig russischer, Syrien
etwa französischer Herrschaft verfallen soll, das ist bei der unzweifelhaften
Tüchtigkeit, namentlich des Türkenvolks, nicht einzusehen. Es ist recht wohl
möglich, daß das osmanische Reich, wenn es im wesentlichen auf Asien und
in Europa etwa auf die Umgebung von Konstantinopel (das ja nicht Haupt¬
stadt zu bleiben brauchte und auch vor 1453 nicht gewesen ist) beschränkt
wäre, ein sehr haltbares Gebilde würde, zumal wenn es europäische Kultur¬
elemente in sich aufnähme, etwa wie Ägypten. Und warum sollte dabei Deutsch¬
land nach so glücklichen Anfängen nicht eine Hauptrolle spielen können? Denn
eine Vergrößerung unsrer beiden Nachbarmächte auf türkische Kosten liegt doch
wahrhaftig nicht in unserm Interesse. Der Gedanke, das teilweise so herrliche
und fruchtbare Kleinasien mit deutschem Kapital und deutscher Arbeit aus seiner
Verwahrlosung wieder emporzubringen, ist, nachdem ihn Ludwig Roß und
Heiland von Moltke schon vor mehr als sechzig Jahren zuerst ausgesprochen
haben, neuerdings wieder mit besondrer Lebhaftigkeit vertreten worden und hat
jetzt in zwei landkundigen jungen deutschen Offizieren in einem besondern
Werke beredte Verfechter gefunden.'") Sie geben keine zusammenhängende
Schilderung von Land und Leuten, vielmehr werden Tierleben, Kulturpflanzen,
Mineralschätze, Bodengestaltung und Gewässer des Landes im einzelnen mehr
vom naturgeschichtlichen Standpunkte aus dargestellt unter Hinzufügung ihrer
türkischen und griechischen Namen und nach ihrer praktischen Kulturbedeutung
besprochen, was natürlich auch zu manchen allgemeinern kulturgeschichtlich
interessanten Erörterungen und Schilderungen Veranlassung giebt, wie z. B.
über Viehzucht, Landbau, Seidenindustrie oder über den „Absentismus" der
türkischen Großgrundbesitzer Kleinasiens, der einen großen Teil der Schuld an



Kleinasiens Naturschätze vom wirtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Standpunkte. Von
Karl Kannenberg. Mit Beiträgen von Schäffer, Mit ZI (meist vorzüglichen) Bildern und
2 Plänen. Berlin, Gebr. Bornträger, 18»7. XU und 278 S,
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[0390] Der rechte Mann bedeuten will, ohne jede Schwierigkeit mobilisirt werden konnte. Und da sollen wir keine Interessen im Mittelmeer haben? Vielleicht keine territorialen, aber sind sie denn in China wesentlich territorialer Art? An einen nahen Zerfall der Türkei glauben wir freilich nicht recht. Die Auflösung des Reichs in Europa wird allerdings wahrscheinlich weitere Fortschritte machen, weil es eben unmöglich geworden ist, daß christliche Völker unter mohammedanischer Herrschaft stehen, so wenig erbaulich die Zustände der befreiten Völker sein mögen, und weil die Mohammedaner, Türken und Araber zusammen, zu schwach an Volkszahl sind, um das ganze ungeheure Reich gegen rebellische Unter¬ thanen und auswärtige Angriffe mit den Waffen zu behaupten. Aber warum sich ein türkisches Reich nicht in Asien erhalten sollte, wo die Mohammedaner nicht das Herrenvolk, sondern den Stamm der Bevölkerung, die Christen kleine verstreute Minderheiten bilden, warum Kleinasien notwendig russischer, Syrien etwa französischer Herrschaft verfallen soll, das ist bei der unzweifelhaften Tüchtigkeit, namentlich des Türkenvolks, nicht einzusehen. Es ist recht wohl möglich, daß das osmanische Reich, wenn es im wesentlichen auf Asien und in Europa etwa auf die Umgebung von Konstantinopel (das ja nicht Haupt¬ stadt zu bleiben brauchte und auch vor 1453 nicht gewesen ist) beschränkt wäre, ein sehr haltbares Gebilde würde, zumal wenn es europäische Kultur¬ elemente in sich aufnähme, etwa wie Ägypten. Und warum sollte dabei Deutsch¬ land nach so glücklichen Anfängen nicht eine Hauptrolle spielen können? Denn eine Vergrößerung unsrer beiden Nachbarmächte auf türkische Kosten liegt doch wahrhaftig nicht in unserm Interesse. Der Gedanke, das teilweise so herrliche und fruchtbare Kleinasien mit deutschem Kapital und deutscher Arbeit aus seiner Verwahrlosung wieder emporzubringen, ist, nachdem ihn Ludwig Roß und Heiland von Moltke schon vor mehr als sechzig Jahren zuerst ausgesprochen haben, neuerdings wieder mit besondrer Lebhaftigkeit vertreten worden und hat jetzt in zwei landkundigen jungen deutschen Offizieren in einem besondern Werke beredte Verfechter gefunden.'") Sie geben keine zusammenhängende Schilderung von Land und Leuten, vielmehr werden Tierleben, Kulturpflanzen, Mineralschätze, Bodengestaltung und Gewässer des Landes im einzelnen mehr vom naturgeschichtlichen Standpunkte aus dargestellt unter Hinzufügung ihrer türkischen und griechischen Namen und nach ihrer praktischen Kulturbedeutung besprochen, was natürlich auch zu manchen allgemeinern kulturgeschichtlich interessanten Erörterungen und Schilderungen Veranlassung giebt, wie z. B. über Viehzucht, Landbau, Seidenindustrie oder über den „Absentismus" der türkischen Großgrundbesitzer Kleinasiens, der einen großen Teil der Schuld an Kleinasiens Naturschätze vom wirtschaftlichen und kulturgeschichtlichen Standpunkte. Von Karl Kannenberg. Mit Beiträgen von Schäffer, Mit ZI (meist vorzüglichen) Bildern und 2 Plänen. Berlin, Gebr. Bornträger, 18»7. XU und 278 S,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/390>, abgerufen am 07.01.2025.