Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bellamys Gleichheit

Schnitte in großer Auswahl vorrätig hält, liefert sie auch die Stoffe und die
Kostüme aller Zeiten und jeder Laune sofort auf Bestellung, sie ordnet die
Kleiderfrage nicht nach den Beschlüssen der Mehrheit, soudern nach den Wünschen
jedes Einzelnen, sie ist anch sonst überall wirklich das, was sie angeblich in
Amerika schon immer gewesen ist: das Werkzeug, wodurch das Volk seinen
Willen in Wirkung umsetzt, das aber selbst völlig ohne Willen ist.

Der öffentliche Wille wird auf zwei Arten ausgedrückt, die völlig ver¬
schieden sind, wie sie sich auf völlig verschiedne Gebiete beziehen. Erstens
gemeinschaftlich durch Mehrheit in Bezug auf die allen gemeinsamen Interessen,
also die großen wirtschaftlichen und politischen Fragen, zweitens persönlich
durch jeden Einzelnen selbst, wenn es sich um private Dinge, um Dinge
handelt, die nur jeden Einzelnen selbst angehen. Die Negierung ist ebenso
vollkommen die Dienerin des gemeinschaftlichen Willens in Bezug auf die
gemeinschaftlichen Interessen, wie sie in persönlichen Dingen die Dienerin der
Bequemlichkeit jedes Einzelnen ist. Sie ist gleichzeitig der erhabne Repräsentant
aller in allgemeinen Dingen und jedermanns Agent, Lausbursche und Faktotum
für alle privaten Zwecke; nichts ist so hoch oder so niedrig, so groß oder so
klein, daß sie es nicht für jeden thäte.

Schmuck, Edelsteine, Juwelen werden nicht mehr getragen. Der alte Jere-
mias würde sich verwundern, wenn er seine Frage: Kann eine Jungfrau ihres
Schmucks vergessen? mit ja beantwortet fände. Schmuck zu tragen, mit Kost¬
barkeiten zu prunken hat keinen Sinn unter Leuten, von denen jeder weiß, daß
das Bankkonto des andern ebenso groß ist wie das eigne; daher ist es all¬
mählich abgekommen. Gold, Silber, Edelsteine werden nur noch zu technischen
Zwecken verwendet.

Der Wunsch, dem andern Geschlecht zu gefallen, ist natürlich bei beiden
Geschlechtern noch genügend stark und zwar gleich stark vorhanden; man kann
aber nur noch dadurch gefallen, daß man durch natürliche Gaben glänzt, die
man möglichst hoch entwickelt hat. Die Männer legen viel mehr Wert auf
ihre Erscheinung, da ihnen nicht mehr ihr Geldbeutel, sondern nur noch ihre
Persönlichkeit Glück bei Frauen verschafft. Die Frauen leben nicht mehr so
ausschließlich wie früher der Toilette, da sie etwas Gescheiteres zu thun haben
und in Bezug auf ihr wirtschaftliches Wohlergehen von den Männern völlig
unabhängig geworden sind: sie haben es nicht mehr nötig, die Augen der
Männer durch alle Mittel auf sich zu ziehen, um versorgt zu werden.

Es lebt sich überhaupt sehr gut in Boston am Ende des zwanzigsten
Jahrhunderts. Die Sonntage und die öffentlichen gesetzlichen Feiertage sind
abgeschafft. Man bedarf dieser jämmerlichen Pausen nicht mehr, die das
arbeitende Volk früher nötig hatte, damit es wenigstens von Zeit zu Zeit
einmal Atem holen konnte. Jetzt, wo der Arbeitstag so kurz geworden ist und
das Arbeitsjahr so mit reichlichen Ferien durchsetzt ist, hat der altmodische
Feiertag aufgehört, irgend welchem Zwecke zu dienen und würde nur als


Bellamys Gleichheit

Schnitte in großer Auswahl vorrätig hält, liefert sie auch die Stoffe und die
Kostüme aller Zeiten und jeder Laune sofort auf Bestellung, sie ordnet die
Kleiderfrage nicht nach den Beschlüssen der Mehrheit, soudern nach den Wünschen
jedes Einzelnen, sie ist anch sonst überall wirklich das, was sie angeblich in
Amerika schon immer gewesen ist: das Werkzeug, wodurch das Volk seinen
Willen in Wirkung umsetzt, das aber selbst völlig ohne Willen ist.

Der öffentliche Wille wird auf zwei Arten ausgedrückt, die völlig ver¬
schieden sind, wie sie sich auf völlig verschiedne Gebiete beziehen. Erstens
gemeinschaftlich durch Mehrheit in Bezug auf die allen gemeinsamen Interessen,
also die großen wirtschaftlichen und politischen Fragen, zweitens persönlich
durch jeden Einzelnen selbst, wenn es sich um private Dinge, um Dinge
handelt, die nur jeden Einzelnen selbst angehen. Die Negierung ist ebenso
vollkommen die Dienerin des gemeinschaftlichen Willens in Bezug auf die
gemeinschaftlichen Interessen, wie sie in persönlichen Dingen die Dienerin der
Bequemlichkeit jedes Einzelnen ist. Sie ist gleichzeitig der erhabne Repräsentant
aller in allgemeinen Dingen und jedermanns Agent, Lausbursche und Faktotum
für alle privaten Zwecke; nichts ist so hoch oder so niedrig, so groß oder so
klein, daß sie es nicht für jeden thäte.

Schmuck, Edelsteine, Juwelen werden nicht mehr getragen. Der alte Jere-
mias würde sich verwundern, wenn er seine Frage: Kann eine Jungfrau ihres
Schmucks vergessen? mit ja beantwortet fände. Schmuck zu tragen, mit Kost¬
barkeiten zu prunken hat keinen Sinn unter Leuten, von denen jeder weiß, daß
das Bankkonto des andern ebenso groß ist wie das eigne; daher ist es all¬
mählich abgekommen. Gold, Silber, Edelsteine werden nur noch zu technischen
Zwecken verwendet.

Der Wunsch, dem andern Geschlecht zu gefallen, ist natürlich bei beiden
Geschlechtern noch genügend stark und zwar gleich stark vorhanden; man kann
aber nur noch dadurch gefallen, daß man durch natürliche Gaben glänzt, die
man möglichst hoch entwickelt hat. Die Männer legen viel mehr Wert auf
ihre Erscheinung, da ihnen nicht mehr ihr Geldbeutel, sondern nur noch ihre
Persönlichkeit Glück bei Frauen verschafft. Die Frauen leben nicht mehr so
ausschließlich wie früher der Toilette, da sie etwas Gescheiteres zu thun haben
und in Bezug auf ihr wirtschaftliches Wohlergehen von den Männern völlig
unabhängig geworden sind: sie haben es nicht mehr nötig, die Augen der
Männer durch alle Mittel auf sich zu ziehen, um versorgt zu werden.

Es lebt sich überhaupt sehr gut in Boston am Ende des zwanzigsten
Jahrhunderts. Die Sonntage und die öffentlichen gesetzlichen Feiertage sind
abgeschafft. Man bedarf dieser jämmerlichen Pausen nicht mehr, die das
arbeitende Volk früher nötig hatte, damit es wenigstens von Zeit zu Zeit
einmal Atem holen konnte. Jetzt, wo der Arbeitstag so kurz geworden ist und
das Arbeitsjahr so mit reichlichen Ferien durchsetzt ist, hat der altmodische
Feiertag aufgehört, irgend welchem Zwecke zu dienen und würde nur als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0368" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227270"/>
          <fw type="header" place="top"> Bellamys Gleichheit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1261" prev="#ID_1260"> Schnitte in großer Auswahl vorrätig hält, liefert sie auch die Stoffe und die<lb/>
Kostüme aller Zeiten und jeder Laune sofort auf Bestellung, sie ordnet die<lb/>
Kleiderfrage nicht nach den Beschlüssen der Mehrheit, soudern nach den Wünschen<lb/>
jedes Einzelnen, sie ist anch sonst überall wirklich das, was sie angeblich in<lb/>
Amerika schon immer gewesen ist: das Werkzeug, wodurch das Volk seinen<lb/>
Willen in Wirkung umsetzt, das aber selbst völlig ohne Willen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1262"> Der öffentliche Wille wird auf zwei Arten ausgedrückt, die völlig ver¬<lb/>
schieden sind, wie sie sich auf völlig verschiedne Gebiete beziehen. Erstens<lb/>
gemeinschaftlich durch Mehrheit in Bezug auf die allen gemeinsamen Interessen,<lb/>
also die großen wirtschaftlichen und politischen Fragen, zweitens persönlich<lb/>
durch jeden Einzelnen selbst, wenn es sich um private Dinge, um Dinge<lb/>
handelt, die nur jeden Einzelnen selbst angehen. Die Negierung ist ebenso<lb/>
vollkommen die Dienerin des gemeinschaftlichen Willens in Bezug auf die<lb/>
gemeinschaftlichen Interessen, wie sie in persönlichen Dingen die Dienerin der<lb/>
Bequemlichkeit jedes Einzelnen ist. Sie ist gleichzeitig der erhabne Repräsentant<lb/>
aller in allgemeinen Dingen und jedermanns Agent, Lausbursche und Faktotum<lb/>
für alle privaten Zwecke; nichts ist so hoch oder so niedrig, so groß oder so<lb/>
klein, daß sie es nicht für jeden thäte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1263"> Schmuck, Edelsteine, Juwelen werden nicht mehr getragen. Der alte Jere-<lb/>
mias würde sich verwundern, wenn er seine Frage: Kann eine Jungfrau ihres<lb/>
Schmucks vergessen? mit ja beantwortet fände. Schmuck zu tragen, mit Kost¬<lb/>
barkeiten zu prunken hat keinen Sinn unter Leuten, von denen jeder weiß, daß<lb/>
das Bankkonto des andern ebenso groß ist wie das eigne; daher ist es all¬<lb/>
mählich abgekommen. Gold, Silber, Edelsteine werden nur noch zu technischen<lb/>
Zwecken verwendet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1264"> Der Wunsch, dem andern Geschlecht zu gefallen, ist natürlich bei beiden<lb/>
Geschlechtern noch genügend stark und zwar gleich stark vorhanden; man kann<lb/>
aber nur noch dadurch gefallen, daß man durch natürliche Gaben glänzt, die<lb/>
man möglichst hoch entwickelt hat. Die Männer legen viel mehr Wert auf<lb/>
ihre Erscheinung, da ihnen nicht mehr ihr Geldbeutel, sondern nur noch ihre<lb/>
Persönlichkeit Glück bei Frauen verschafft. Die Frauen leben nicht mehr so<lb/>
ausschließlich wie früher der Toilette, da sie etwas Gescheiteres zu thun haben<lb/>
und in Bezug auf ihr wirtschaftliches Wohlergehen von den Männern völlig<lb/>
unabhängig geworden sind: sie haben es nicht mehr nötig, die Augen der<lb/>
Männer durch alle Mittel auf sich zu ziehen, um versorgt zu werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1265" next="#ID_1266"> Es lebt sich überhaupt sehr gut in Boston am Ende des zwanzigsten<lb/>
Jahrhunderts. Die Sonntage und die öffentlichen gesetzlichen Feiertage sind<lb/>
abgeschafft. Man bedarf dieser jämmerlichen Pausen nicht mehr, die das<lb/>
arbeitende Volk früher nötig hatte, damit es wenigstens von Zeit zu Zeit<lb/>
einmal Atem holen konnte. Jetzt, wo der Arbeitstag so kurz geworden ist und<lb/>
das Arbeitsjahr so mit reichlichen Ferien durchsetzt ist, hat der altmodische<lb/>
Feiertag aufgehört, irgend welchem Zwecke zu dienen und würde nur als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0368] Bellamys Gleichheit Schnitte in großer Auswahl vorrätig hält, liefert sie auch die Stoffe und die Kostüme aller Zeiten und jeder Laune sofort auf Bestellung, sie ordnet die Kleiderfrage nicht nach den Beschlüssen der Mehrheit, soudern nach den Wünschen jedes Einzelnen, sie ist anch sonst überall wirklich das, was sie angeblich in Amerika schon immer gewesen ist: das Werkzeug, wodurch das Volk seinen Willen in Wirkung umsetzt, das aber selbst völlig ohne Willen ist. Der öffentliche Wille wird auf zwei Arten ausgedrückt, die völlig ver¬ schieden sind, wie sie sich auf völlig verschiedne Gebiete beziehen. Erstens gemeinschaftlich durch Mehrheit in Bezug auf die allen gemeinsamen Interessen, also die großen wirtschaftlichen und politischen Fragen, zweitens persönlich durch jeden Einzelnen selbst, wenn es sich um private Dinge, um Dinge handelt, die nur jeden Einzelnen selbst angehen. Die Negierung ist ebenso vollkommen die Dienerin des gemeinschaftlichen Willens in Bezug auf die gemeinschaftlichen Interessen, wie sie in persönlichen Dingen die Dienerin der Bequemlichkeit jedes Einzelnen ist. Sie ist gleichzeitig der erhabne Repräsentant aller in allgemeinen Dingen und jedermanns Agent, Lausbursche und Faktotum für alle privaten Zwecke; nichts ist so hoch oder so niedrig, so groß oder so klein, daß sie es nicht für jeden thäte. Schmuck, Edelsteine, Juwelen werden nicht mehr getragen. Der alte Jere- mias würde sich verwundern, wenn er seine Frage: Kann eine Jungfrau ihres Schmucks vergessen? mit ja beantwortet fände. Schmuck zu tragen, mit Kost¬ barkeiten zu prunken hat keinen Sinn unter Leuten, von denen jeder weiß, daß das Bankkonto des andern ebenso groß ist wie das eigne; daher ist es all¬ mählich abgekommen. Gold, Silber, Edelsteine werden nur noch zu technischen Zwecken verwendet. Der Wunsch, dem andern Geschlecht zu gefallen, ist natürlich bei beiden Geschlechtern noch genügend stark und zwar gleich stark vorhanden; man kann aber nur noch dadurch gefallen, daß man durch natürliche Gaben glänzt, die man möglichst hoch entwickelt hat. Die Männer legen viel mehr Wert auf ihre Erscheinung, da ihnen nicht mehr ihr Geldbeutel, sondern nur noch ihre Persönlichkeit Glück bei Frauen verschafft. Die Frauen leben nicht mehr so ausschließlich wie früher der Toilette, da sie etwas Gescheiteres zu thun haben und in Bezug auf ihr wirtschaftliches Wohlergehen von den Männern völlig unabhängig geworden sind: sie haben es nicht mehr nötig, die Augen der Männer durch alle Mittel auf sich zu ziehen, um versorgt zu werden. Es lebt sich überhaupt sehr gut in Boston am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Sonntage und die öffentlichen gesetzlichen Feiertage sind abgeschafft. Man bedarf dieser jämmerlichen Pausen nicht mehr, die das arbeitende Volk früher nötig hatte, damit es wenigstens von Zeit zu Zeit einmal Atem holen konnte. Jetzt, wo der Arbeitstag so kurz geworden ist und das Arbeitsjahr so mit reichlichen Ferien durchsetzt ist, hat der altmodische Feiertag aufgehört, irgend welchem Zwecke zu dienen und würde nur als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/368
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/368>, abgerufen am 08.01.2025.