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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Sozialdemokratie und Flotte

verblendet, wirken sie thatsächlich ihren eignen Zwecken, der Hebung ihrer
Lebenslage entgegen."

So sagt der sich mausernde Lorenz, und wer sich über die Mauserung
der Sozialdemokraten, diese bewußte, wohl berechnete Unwahrheit des modernsten
Kathedersozialismus -- und "Freisinns," genauer unterrichten will, der lese das
Schriftchen. Was wir hier mitgeteilt haben, wird genügen zur Veranschaulichung
der Vaterlands- und Arbeiterliebe der Herren um Singer und Bebel. Aber
freilich kann das wenig ins Gewicht fallen, wenn sich die verehrliche Zunft
der bestellten und verordneten Vertreter der Staatsweisheit mit ihrer ganzen
Unfehlbarkeit in die andre Wagschale wirft. Wir haben besondre Veranlassung,
hierüber noch ein Wort zu reden.

Herr Professor Dr. von Schulze-Gaeveruitz hat kürzlich in einem
fünften und letzten handelspolitischen "akademischen" Vortrage in Freiburg in
Baden "über die Zukunft der deutschen Handelspolitik" gesprochen. Wie wir
in der Neuen Badischen Landeszeituug vom 25. Januar dieses Jahres lesen,
hat sich Herr von Schulze über die zukünftige Handelspolitik und auch die
Flottenpolitik des Reichs sehr verständig ausgelassen. Umso bezeichnender und
bedauerlicher ist es aber, daß auch dieser zuuftgerechte moderne Kathedersozialist,
sobald er auf den -- man verzeihe den häßlichen Ausdruck -- Tollpunkt der
Schule kommt, und auf den kommen sie leider alle immer und überall, sich
sür verpflichtet hält, seiner lernbegierigen Zuhörerschaft ganz unverantwortliche
Dinge vorzutragen. In der Hauptsache folgendes: Was die Notwendigkeit der
Flottenvermehrung anbeträfe, so wird berichtet, als deren Anhänger sich der
Redner im Laufe seiner Ausführungen bekannt habe, so seien die in letzter Zeit
gethanen "nutzlosen Äußerungen der Offiziösen wie "vaterlandslose Gesellen"
nicht geeignet, bei den Gegnern die Liebe zum Vaterlande zu erwecken," vielmehr
sei zu "konstatiren, daß ein großer Teil des deutschen Volkes seine Interessen
noch nicht als identisch mit den Interessen des deutschen Staats empfindet."
Am stärksten sei diese Strömung vertreten in der Arbeiterwelt. Das sei umso
schlimmer, als man zugeben müsse, daß dieses Gefühl in Deutschland fortwährend
durch kleinliche Polizeichikanen und veraltete Vereinsgesetze aufrecht gehalten werde.
Professor Schäfer in Heidelberg habe einmal gesagt: Der deutsche Werkmann
möchte nicht mit dem englischen tauschen. Er, der Vortragende, müsse leider
die Thatsache konstatiren, der Westfale würde gern mit dem Northumberlünder
tauschen, weil sich dieser seiner politischen Freiheit, vor allem eines freiheit¬
lichen Vereinsgesetzes erfreue. Sollte das Flottengesetz Schiffbruch erleiden,
so mache er, Herr von Schulze, in erster Linie verantwortlich dieselbe deutsche
Negierung, die noch vor kurzem durch eine Nückwärtsrevidirung des Vereins¬
gesetzes einen großen Teil ihrer Unterthanen habe "entrechten" wollen, deren
Zustimmung zu der Vorlage doch heute erforderlich sei. Schlimmer als die
Lohnerhöhung, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Verluste bei Streiks, denen


Sozialdemokratie und Flotte

verblendet, wirken sie thatsächlich ihren eignen Zwecken, der Hebung ihrer
Lebenslage entgegen."

So sagt der sich mausernde Lorenz, und wer sich über die Mauserung
der Sozialdemokraten, diese bewußte, wohl berechnete Unwahrheit des modernsten
Kathedersozialismus — und „Freisinns," genauer unterrichten will, der lese das
Schriftchen. Was wir hier mitgeteilt haben, wird genügen zur Veranschaulichung
der Vaterlands- und Arbeiterliebe der Herren um Singer und Bebel. Aber
freilich kann das wenig ins Gewicht fallen, wenn sich die verehrliche Zunft
der bestellten und verordneten Vertreter der Staatsweisheit mit ihrer ganzen
Unfehlbarkeit in die andre Wagschale wirft. Wir haben besondre Veranlassung,
hierüber noch ein Wort zu reden.

Herr Professor Dr. von Schulze-Gaeveruitz hat kürzlich in einem
fünften und letzten handelspolitischen „akademischen" Vortrage in Freiburg in
Baden „über die Zukunft der deutschen Handelspolitik" gesprochen. Wie wir
in der Neuen Badischen Landeszeituug vom 25. Januar dieses Jahres lesen,
hat sich Herr von Schulze über die zukünftige Handelspolitik und auch die
Flottenpolitik des Reichs sehr verständig ausgelassen. Umso bezeichnender und
bedauerlicher ist es aber, daß auch dieser zuuftgerechte moderne Kathedersozialist,
sobald er auf den — man verzeihe den häßlichen Ausdruck — Tollpunkt der
Schule kommt, und auf den kommen sie leider alle immer und überall, sich
sür verpflichtet hält, seiner lernbegierigen Zuhörerschaft ganz unverantwortliche
Dinge vorzutragen. In der Hauptsache folgendes: Was die Notwendigkeit der
Flottenvermehrung anbeträfe, so wird berichtet, als deren Anhänger sich der
Redner im Laufe seiner Ausführungen bekannt habe, so seien die in letzter Zeit
gethanen „nutzlosen Äußerungen der Offiziösen wie »vaterlandslose Gesellen«
nicht geeignet, bei den Gegnern die Liebe zum Vaterlande zu erwecken," vielmehr
sei zu „konstatiren, daß ein großer Teil des deutschen Volkes seine Interessen
noch nicht als identisch mit den Interessen des deutschen Staats empfindet."
Am stärksten sei diese Strömung vertreten in der Arbeiterwelt. Das sei umso
schlimmer, als man zugeben müsse, daß dieses Gefühl in Deutschland fortwährend
durch kleinliche Polizeichikanen und veraltete Vereinsgesetze aufrecht gehalten werde.
Professor Schäfer in Heidelberg habe einmal gesagt: Der deutsche Werkmann
möchte nicht mit dem englischen tauschen. Er, der Vortragende, müsse leider
die Thatsache konstatiren, der Westfale würde gern mit dem Northumberlünder
tauschen, weil sich dieser seiner politischen Freiheit, vor allem eines freiheit¬
lichen Vereinsgesetzes erfreue. Sollte das Flottengesetz Schiffbruch erleiden,
so mache er, Herr von Schulze, in erster Linie verantwortlich dieselbe deutsche
Negierung, die noch vor kurzem durch eine Nückwärtsrevidirung des Vereins¬
gesetzes einen großen Teil ihrer Unterthanen habe „entrechten" wollen, deren
Zustimmung zu der Vorlage doch heute erforderlich sei. Schlimmer als die
Lohnerhöhung, die Verkürzung der Arbeitszeit, die Verluste bei Streiks, denen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/354>, abgerufen am 08.01.2025.