Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Zeitgenössische Memoiren möchte wohl jeder eine Hauptperson in dieser Idylle sein. Die Wirklichkeit Diese kurzen Stellen mögen zeigen, daß wir uns in einem höhern Be¬ Zeitgenössische Memoiren möchte wohl jeder eine Hauptperson in dieser Idylle sein. Die Wirklichkeit Diese kurzen Stellen mögen zeigen, daß wir uns in einem höhern Be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0330" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227232"/> <fw type="header" place="top"> Zeitgenössische Memoiren</fw><lb/> <p xml:id="ID_1085" prev="#ID_1084"> möchte wohl jeder eine Hauptperson in dieser Idylle sein. Die Wirklichkeit<lb/> entspricht leider nicht der Dichtung. Mir fehlt nicht die Liebe und Teilnahme<lb/> für meine Kinder und Enkel; ich möchte sie, wie alle Menschen, glücklich<lb/> machen. Dieser Wunsch vernichtet die Idylle, die scheinbare Ruhe und Be¬<lb/> haglichkeit erleiden immer wieder neue Störung." Dann kommt sie auf die<lb/> Sorgen, die der stets wachsende Kreis der Nachkommen ihrem Alter bereite,<lb/> und auf den Abschluß ihres Tagewerks zu sprechen. „Und doch lebe ich nicht<lb/> umsonst, auch ich habe nach meinen bescheidnen Kräften in der großen Kette<lb/> mitgewirkt, und das überlebt mich, das ist mein Gewinn, ein Besitz für diese<lb/> und jene Welt, auf die wir alle hoffen, von der wir wissen, daß sie schöner<lb/> ist als das Erdenleben. Ich habe brave Nachkommen, Kinder und Enkel; zu<lb/> dem Glück, daß ich sie besitze, gesellen sich naturgemäß auch Sorgen. Aber<lb/> mit heißem Danke erkenne ich die Bevorzugung vor andern, denn meiner Kinder<lb/> Entwicklung ist nicht mein Verdienst."</p><lb/> <p xml:id="ID_1086"> Diese kurzen Stellen mögen zeigen, daß wir uns in einem höhern Be¬<lb/> reiche befinden, als in dem uns viele Bücher mit ähnlichem Titel festhalten.<lb/> Wenige können ihr Leben mit einer so klaren und für andre anziehenden Ab¬<lb/> rechnung abschließen. Als charakteristisch heben wir noch ein schönes Kapitel<lb/> hervor, das so anfängt: „Zwei Frauen leben in meiner Erinnerung wie zwei<lb/> Lichtpunkte. Sie waren in jeder Beziehung verschieden. Die eine gehörte dem<lb/> Adel an und befand sich in angesehener Stellung, die andre war eine Bürger¬<lb/> liche, in bescheidnen Verhältnissen. Die erste war eine Dame mit reichem<lb/> Geist und reichem Gemüt. Die andre besaß eine tiefe Seele und ein goldnes<lb/> Herz." Und nun erhalten wir die Bilder der Frau eines Grobschmieds Niese,<lb/> die am Kummer über den plötzlichen Tod ihres in die Fremde gegangnen<lb/> Sohnes allmählich zu Grunde geht, und des Fräuleins Ulrike von Pogwisch,<lb/> der Schwester von Goethes Schwiegertochter Ottilie. Sie hatte einst mit<lb/> einem roten Zitzkleid in Weimar alle Bälle eines Winters, auch die am Hofe<lb/> Karl Augusts, wo ihre Mutter damals Oberzeremonienmeisterin war, mit¬<lb/> gemacht und hatte nun als Priorin des adlichen Damenstifts in Schleswig<lb/> Gelegenheit, die Genußfähigkeit ihrer neuen Landsleute mit der Einfachheit<lb/> ihrer Weimarer Jugendtage zu vergleichen. „Sie erzählte von der Geselligkeit<lb/> in Weimar. Der Verkehr war lebhaft, die Jugend tanzte in einem Saale,<lb/> der nur durch zwei Lichter erhellt war. Die Bewirtung bestand in Thee,<lb/> etwas Kuchen und Butterbrot. Eine Familie belegte einst zur Feier eines<lb/> Geburtstags das Brot mit Fleisch und Käse und gab außerdem noch Punsch<lb/> zum Schluß des Tages. Diese Extravaganz versetzte Weimar in vollständige<lb/> Aufregung." Und so dachte Fraulein von Pogwisch in Schleswig bei jeder<lb/> Gelegenheit an Weimar zurück und pflegte ihren Geschichten die Wendung<lb/> hinzuzufügen: „Aber alle Welt war entzückt, denn jeder brachte den Geist mit,<lb/> und der fehlt meist jetzt," worin sie wohl Recht gehabt haben wird.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0330]
Zeitgenössische Memoiren
möchte wohl jeder eine Hauptperson in dieser Idylle sein. Die Wirklichkeit
entspricht leider nicht der Dichtung. Mir fehlt nicht die Liebe und Teilnahme
für meine Kinder und Enkel; ich möchte sie, wie alle Menschen, glücklich
machen. Dieser Wunsch vernichtet die Idylle, die scheinbare Ruhe und Be¬
haglichkeit erleiden immer wieder neue Störung." Dann kommt sie auf die
Sorgen, die der stets wachsende Kreis der Nachkommen ihrem Alter bereite,
und auf den Abschluß ihres Tagewerks zu sprechen. „Und doch lebe ich nicht
umsonst, auch ich habe nach meinen bescheidnen Kräften in der großen Kette
mitgewirkt, und das überlebt mich, das ist mein Gewinn, ein Besitz für diese
und jene Welt, auf die wir alle hoffen, von der wir wissen, daß sie schöner
ist als das Erdenleben. Ich habe brave Nachkommen, Kinder und Enkel; zu
dem Glück, daß ich sie besitze, gesellen sich naturgemäß auch Sorgen. Aber
mit heißem Danke erkenne ich die Bevorzugung vor andern, denn meiner Kinder
Entwicklung ist nicht mein Verdienst."
Diese kurzen Stellen mögen zeigen, daß wir uns in einem höhern Be¬
reiche befinden, als in dem uns viele Bücher mit ähnlichem Titel festhalten.
Wenige können ihr Leben mit einer so klaren und für andre anziehenden Ab¬
rechnung abschließen. Als charakteristisch heben wir noch ein schönes Kapitel
hervor, das so anfängt: „Zwei Frauen leben in meiner Erinnerung wie zwei
Lichtpunkte. Sie waren in jeder Beziehung verschieden. Die eine gehörte dem
Adel an und befand sich in angesehener Stellung, die andre war eine Bürger¬
liche, in bescheidnen Verhältnissen. Die erste war eine Dame mit reichem
Geist und reichem Gemüt. Die andre besaß eine tiefe Seele und ein goldnes
Herz." Und nun erhalten wir die Bilder der Frau eines Grobschmieds Niese,
die am Kummer über den plötzlichen Tod ihres in die Fremde gegangnen
Sohnes allmählich zu Grunde geht, und des Fräuleins Ulrike von Pogwisch,
der Schwester von Goethes Schwiegertochter Ottilie. Sie hatte einst mit
einem roten Zitzkleid in Weimar alle Bälle eines Winters, auch die am Hofe
Karl Augusts, wo ihre Mutter damals Oberzeremonienmeisterin war, mit¬
gemacht und hatte nun als Priorin des adlichen Damenstifts in Schleswig
Gelegenheit, die Genußfähigkeit ihrer neuen Landsleute mit der Einfachheit
ihrer Weimarer Jugendtage zu vergleichen. „Sie erzählte von der Geselligkeit
in Weimar. Der Verkehr war lebhaft, die Jugend tanzte in einem Saale,
der nur durch zwei Lichter erhellt war. Die Bewirtung bestand in Thee,
etwas Kuchen und Butterbrot. Eine Familie belegte einst zur Feier eines
Geburtstags das Brot mit Fleisch und Käse und gab außerdem noch Punsch
zum Schluß des Tages. Diese Extravaganz versetzte Weimar in vollständige
Aufregung." Und so dachte Fraulein von Pogwisch in Schleswig bei jeder
Gelegenheit an Weimar zurück und pflegte ihren Geschichten die Wendung
hinzuzufügen: „Aber alle Welt war entzückt, denn jeder brachte den Geist mit,
und der fehlt meist jetzt," worin sie wohl Recht gehabt haben wird.
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