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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Zur neuesten Titteraturgeschichte

Wandlungen und Widersprüchen begriffen. Das wußte niemand so gut wie
er selbst: "Dieser Denker braucht niemanden, der ihn widerlegt; er genügt sich
dazu selber," und "am Philosophen giebt es ganz und gar nichts unpersön¬
liches." Wie gering, wie unbedeutend muß eine Individualität sein, die es
über sich gewinnt, den Launen und Stimmungen einer andern und überdies
so willkürlichen dnrch alle ihre Widersprüche gehorsam zu folgen! Zu dem
Traum Nietzsches von seinem eignen Ich, dem Übermenschentum, meint Grotthuß
nicht unrichtig, es sei sein positives Verdienst, die große, aber leider immer
mehr in Vergessenheit geratende aristokratische Wahrheit von der Ungleichheit
der Menschen wieder auf ein hohes Postament gestellt zu haben. Zu Nietzsches
Formvollendung und Bildersprache aber, die "stellenweise zum Schönsten gehört,
was je aus einer deutschen Feder geflossen ist," Hütte Grotthuß eigentlich in
Anschlag bringen sollen, daß Nietzsches ganze innere Anschauung, als er schrieb,
von der griechischen Poesie förmlich gesättigt war. NichtPhilologen können
kaum ahnen, was darin für eine Schule zur Schönheit liegt für den, der über¬
haupt Formensinn hat. Wer aber eine Vorstellung davon hat, dem wird das
Verdienst oder die Originalität Nietzsches nicht mehr ganz so groß scheinen.
Und wer so aufrichtig anerkennen kaun, wie Grotthuß, dessen Ablehnung wird
umso mehr Eindruck machen, und deswegen wäre dieser Aussatz besonders der
Gefolgschaft Nietzsches zu empfehlen, zu der ja auch diese neuesten Dichter
gehören.

Daß gerade in der letzten Zeit über Gerhart Hauptmann soviel geschrieben
worden ist, hat sein neuestes Werk veranlaßt, die Versunkne Glocke (1896), die
auf dem Theater und in der Buchauflage einen ganz ungeheuern Erfolg gehabt
hat. Während aber die große Menge sie für sein Höchstes erklärt hat, be¬
kennt sich die ernstere, mit wissenschaftlichen Mitteln arbeitende Kritik durchaus
nicht zu dieser Ansicht. Bestechend wirkt die Einkleidung mit ihren Ent¬
lehnungen aus Volkstum und Sage, die Scheinrvmcmtik, die wohllautenden
lyrischen Verse, und im Hinblick auf diese formalpoetischen Vorzüge meint sogar
Bartels, es sei keiner außer Hauptmann, der "als Ganzes" so etwas hätte
machen können. Andrerseits aber ist er ein viel zu guter Kenner aller frühern
Poesie, als daß er nicht in einer langen Reihe von Namen und Titeln von
Shakespeare bis auf Ibsen die Muster zur Hand hätte, nach denen hier ge¬
arbeitet worden ist. Und da er ferner ohne weiteres ein ganzes Verzeichnis
unleugbarer Geschmacklosigkeiten im poetischen Ausdruck zusammenstellen kann,
so schränkt sich doch sein allgemeines dem Dichter gespendetes Lob erheblich ein.
Einen größern Eindruck haben Hauptmanns Lyrismen auf Grotthuß gemacht;
ein öfter wiederholtes "Ningelreigenflüsterkranz," das Bartels als unangenehmen
Schwulst auf den Index seiner Tadel setzt, atmet z. B. für ihn einen undefinir-
baren, aus Mondesdüster, träumerischem Vlätterrauschen und geheimnis¬
vollem nebelgrauen gewöhnen Zauber, und einzelnen seiner Versreihen, an


Zur neuesten Titteraturgeschichte

Wandlungen und Widersprüchen begriffen. Das wußte niemand so gut wie
er selbst: „Dieser Denker braucht niemanden, der ihn widerlegt; er genügt sich
dazu selber," und „am Philosophen giebt es ganz und gar nichts unpersön¬
liches." Wie gering, wie unbedeutend muß eine Individualität sein, die es
über sich gewinnt, den Launen und Stimmungen einer andern und überdies
so willkürlichen dnrch alle ihre Widersprüche gehorsam zu folgen! Zu dem
Traum Nietzsches von seinem eignen Ich, dem Übermenschentum, meint Grotthuß
nicht unrichtig, es sei sein positives Verdienst, die große, aber leider immer
mehr in Vergessenheit geratende aristokratische Wahrheit von der Ungleichheit
der Menschen wieder auf ein hohes Postament gestellt zu haben. Zu Nietzsches
Formvollendung und Bildersprache aber, die „stellenweise zum Schönsten gehört,
was je aus einer deutschen Feder geflossen ist," Hütte Grotthuß eigentlich in
Anschlag bringen sollen, daß Nietzsches ganze innere Anschauung, als er schrieb,
von der griechischen Poesie förmlich gesättigt war. NichtPhilologen können
kaum ahnen, was darin für eine Schule zur Schönheit liegt für den, der über¬
haupt Formensinn hat. Wer aber eine Vorstellung davon hat, dem wird das
Verdienst oder die Originalität Nietzsches nicht mehr ganz so groß scheinen.
Und wer so aufrichtig anerkennen kaun, wie Grotthuß, dessen Ablehnung wird
umso mehr Eindruck machen, und deswegen wäre dieser Aussatz besonders der
Gefolgschaft Nietzsches zu empfehlen, zu der ja auch diese neuesten Dichter
gehören.

Daß gerade in der letzten Zeit über Gerhart Hauptmann soviel geschrieben
worden ist, hat sein neuestes Werk veranlaßt, die Versunkne Glocke (1896), die
auf dem Theater und in der Buchauflage einen ganz ungeheuern Erfolg gehabt
hat. Während aber die große Menge sie für sein Höchstes erklärt hat, be¬
kennt sich die ernstere, mit wissenschaftlichen Mitteln arbeitende Kritik durchaus
nicht zu dieser Ansicht. Bestechend wirkt die Einkleidung mit ihren Ent¬
lehnungen aus Volkstum und Sage, die Scheinrvmcmtik, die wohllautenden
lyrischen Verse, und im Hinblick auf diese formalpoetischen Vorzüge meint sogar
Bartels, es sei keiner außer Hauptmann, der „als Ganzes" so etwas hätte
machen können. Andrerseits aber ist er ein viel zu guter Kenner aller frühern
Poesie, als daß er nicht in einer langen Reihe von Namen und Titeln von
Shakespeare bis auf Ibsen die Muster zur Hand hätte, nach denen hier ge¬
arbeitet worden ist. Und da er ferner ohne weiteres ein ganzes Verzeichnis
unleugbarer Geschmacklosigkeiten im poetischen Ausdruck zusammenstellen kann,
so schränkt sich doch sein allgemeines dem Dichter gespendetes Lob erheblich ein.
Einen größern Eindruck haben Hauptmanns Lyrismen auf Grotthuß gemacht;
ein öfter wiederholtes „Ningelreigenflüsterkranz," das Bartels als unangenehmen
Schwulst auf den Index seiner Tadel setzt, atmet z. B. für ihn einen undefinir-
baren, aus Mondesdüster, träumerischem Vlätterrauschen und geheimnis¬
vollem nebelgrauen gewöhnen Zauber, und einzelnen seiner Versreihen, an


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[0319] Zur neuesten Titteraturgeschichte Wandlungen und Widersprüchen begriffen. Das wußte niemand so gut wie er selbst: „Dieser Denker braucht niemanden, der ihn widerlegt; er genügt sich dazu selber," und „am Philosophen giebt es ganz und gar nichts unpersön¬ liches." Wie gering, wie unbedeutend muß eine Individualität sein, die es über sich gewinnt, den Launen und Stimmungen einer andern und überdies so willkürlichen dnrch alle ihre Widersprüche gehorsam zu folgen! Zu dem Traum Nietzsches von seinem eignen Ich, dem Übermenschentum, meint Grotthuß nicht unrichtig, es sei sein positives Verdienst, die große, aber leider immer mehr in Vergessenheit geratende aristokratische Wahrheit von der Ungleichheit der Menschen wieder auf ein hohes Postament gestellt zu haben. Zu Nietzsches Formvollendung und Bildersprache aber, die „stellenweise zum Schönsten gehört, was je aus einer deutschen Feder geflossen ist," Hütte Grotthuß eigentlich in Anschlag bringen sollen, daß Nietzsches ganze innere Anschauung, als er schrieb, von der griechischen Poesie förmlich gesättigt war. NichtPhilologen können kaum ahnen, was darin für eine Schule zur Schönheit liegt für den, der über¬ haupt Formensinn hat. Wer aber eine Vorstellung davon hat, dem wird das Verdienst oder die Originalität Nietzsches nicht mehr ganz so groß scheinen. Und wer so aufrichtig anerkennen kaun, wie Grotthuß, dessen Ablehnung wird umso mehr Eindruck machen, und deswegen wäre dieser Aussatz besonders der Gefolgschaft Nietzsches zu empfehlen, zu der ja auch diese neuesten Dichter gehören. Daß gerade in der letzten Zeit über Gerhart Hauptmann soviel geschrieben worden ist, hat sein neuestes Werk veranlaßt, die Versunkne Glocke (1896), die auf dem Theater und in der Buchauflage einen ganz ungeheuern Erfolg gehabt hat. Während aber die große Menge sie für sein Höchstes erklärt hat, be¬ kennt sich die ernstere, mit wissenschaftlichen Mitteln arbeitende Kritik durchaus nicht zu dieser Ansicht. Bestechend wirkt die Einkleidung mit ihren Ent¬ lehnungen aus Volkstum und Sage, die Scheinrvmcmtik, die wohllautenden lyrischen Verse, und im Hinblick auf diese formalpoetischen Vorzüge meint sogar Bartels, es sei keiner außer Hauptmann, der „als Ganzes" so etwas hätte machen können. Andrerseits aber ist er ein viel zu guter Kenner aller frühern Poesie, als daß er nicht in einer langen Reihe von Namen und Titeln von Shakespeare bis auf Ibsen die Muster zur Hand hätte, nach denen hier ge¬ arbeitet worden ist. Und da er ferner ohne weiteres ein ganzes Verzeichnis unleugbarer Geschmacklosigkeiten im poetischen Ausdruck zusammenstellen kann, so schränkt sich doch sein allgemeines dem Dichter gespendetes Lob erheblich ein. Einen größern Eindruck haben Hauptmanns Lyrismen auf Grotthuß gemacht; ein öfter wiederholtes „Ningelreigenflüsterkranz," das Bartels als unangenehmen Schwulst auf den Index seiner Tadel setzt, atmet z. B. für ihn einen undefinir- baren, aus Mondesdüster, träumerischem Vlätterrauschen und geheimnis¬ vollem nebelgrauen gewöhnen Zauber, und einzelnen seiner Versreihen, an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/319>, abgerufen am 08.01.2025.