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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Zur neuesten Litteraturgeschichte

der ältern Litteratur ist umfassend und genau, seine Beobachtung in Bezug
auf das, worin die neueste abhängt von der Art ihres Landes und den Zeit¬
ereignissen, scharfsinnig und mannigfaltig. Man hat bei ihm immer den Ein¬
druck, daß es sich um etwas lebendiges handelt, und dies Leben versetzt unsre
Gedanken in Mitthätigkeit, während uns seine Fachgenossen oft nur durch her¬
kömmlich eingeschachtelte Kategorien belehren und langweilen. So enthält denn
auch dieses Buch unter allen, die über Hauptmann geschrieben worden sind,
am meisten durchdachtes und unterrichtendes. Anerkennender aber, milder und
weniger scharf in seinem Urteil konnte ein Mann von seinen Ansprüchen un¬
möglich sein.

Ehe wir etwas näher darauf eingehen, möchten wir noch ein gleichfalls
eben erschienenes Buch von I. E. Frhr. von Grotthuß erwähnen, das unter
einem etwas gesuchten Titel: Probleme und Charakterköpfe. Studien
zur Litteratur unsrer Zeit (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer), dreizehn einzelne
Essays, leicht und elegant geschrieben, aber ernst und vornehm in der Auf¬
fassung, enthält, darunter auch einen über Gerhart Hauptmann. Grotthuß
giebt uns entsprechend der Form seines Vortrags an Stelle einer geschlossenen
Beweisführung mehr Apercus, aber darum doch nicht weniger sachlichen
Gehalt; wer sich über unsre neueste Litteratur ernstlich und doch angenehm
unterrichten möchte, der sollte sich diesen Vertrauen erweckenden Führer nicht
entgehen lassen. Bis auf den Artikel über Ibsen habe ich das Buch von
Anfang bis zu Ende mit Interesse gelesen (über Hendrik Ibsen lese ich über¬
haupt nichts mehr, seit ich mindestens ein halbes Dutzend Bücher über ihn
kennen gelernt und gefunden habe, daß schon alles möglicherweise Sagbare über
den von ihm gestifteten Nutzen oder Schaden gesagt worden ist); um aber eine
bestimmtere Vorstellung zu geben, hebe ich außer einer zutreffenden, kühlen
Beleuchtung von Ebers und Felix Dahn neben der etwas wärmern Nichts
einen aus dem vollen Herzen kommenden Lobgesang auf Liliencrons kleine
Lieder hervor, worin es heißt: "Es gehört die ganze goldne, treuherzige
Naivität eines Liliencron dazu -- ich habe nicht die Ehre, ihn persönlich zu
kennen --, mit einem Richard Dehmel Freundschaft zu schließen. Und es
gehört der ganze Skeptizismus und Ästhetizismus eines Dehmel dazu -- auch
ihn kenne ich persönlich nicht --, um sich für einen Detlev von Liliencron zu
begeistern," und dann erhalten wir eine Beurteilung der Dehmelschen Lyrik,
mit der wir uus ebenfalls einverstanden erklären. Von geradezu entscheidender
Bedeutung aber ist, was Grotthuß über Nietzsche schreibt, wovon ein paar
Proben in freier Wiedergabe hier stehen mögen. Nietzsche ist gar kein Philo¬
soph. Das Beste, was er geschrieben hat, namentlich der Zarathustra, ist
Gedankenlyrik. Sein ganzes sogenanntes System beruht nicht auf notwendigen
Voraussetzungen und Schlüssen, sondern auf subjektiven Stimmungen, und wie
Stimmungen wechseln und sich widersprechen, so ist auch er in beständigen


Zur neuesten Litteraturgeschichte

der ältern Litteratur ist umfassend und genau, seine Beobachtung in Bezug
auf das, worin die neueste abhängt von der Art ihres Landes und den Zeit¬
ereignissen, scharfsinnig und mannigfaltig. Man hat bei ihm immer den Ein¬
druck, daß es sich um etwas lebendiges handelt, und dies Leben versetzt unsre
Gedanken in Mitthätigkeit, während uns seine Fachgenossen oft nur durch her¬
kömmlich eingeschachtelte Kategorien belehren und langweilen. So enthält denn
auch dieses Buch unter allen, die über Hauptmann geschrieben worden sind,
am meisten durchdachtes und unterrichtendes. Anerkennender aber, milder und
weniger scharf in seinem Urteil konnte ein Mann von seinen Ansprüchen un¬
möglich sein.

Ehe wir etwas näher darauf eingehen, möchten wir noch ein gleichfalls
eben erschienenes Buch von I. E. Frhr. von Grotthuß erwähnen, das unter
einem etwas gesuchten Titel: Probleme und Charakterköpfe. Studien
zur Litteratur unsrer Zeit (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer), dreizehn einzelne
Essays, leicht und elegant geschrieben, aber ernst und vornehm in der Auf¬
fassung, enthält, darunter auch einen über Gerhart Hauptmann. Grotthuß
giebt uns entsprechend der Form seines Vortrags an Stelle einer geschlossenen
Beweisführung mehr Apercus, aber darum doch nicht weniger sachlichen
Gehalt; wer sich über unsre neueste Litteratur ernstlich und doch angenehm
unterrichten möchte, der sollte sich diesen Vertrauen erweckenden Führer nicht
entgehen lassen. Bis auf den Artikel über Ibsen habe ich das Buch von
Anfang bis zu Ende mit Interesse gelesen (über Hendrik Ibsen lese ich über¬
haupt nichts mehr, seit ich mindestens ein halbes Dutzend Bücher über ihn
kennen gelernt und gefunden habe, daß schon alles möglicherweise Sagbare über
den von ihm gestifteten Nutzen oder Schaden gesagt worden ist); um aber eine
bestimmtere Vorstellung zu geben, hebe ich außer einer zutreffenden, kühlen
Beleuchtung von Ebers und Felix Dahn neben der etwas wärmern Nichts
einen aus dem vollen Herzen kommenden Lobgesang auf Liliencrons kleine
Lieder hervor, worin es heißt: „Es gehört die ganze goldne, treuherzige
Naivität eines Liliencron dazu — ich habe nicht die Ehre, ihn persönlich zu
kennen —, mit einem Richard Dehmel Freundschaft zu schließen. Und es
gehört der ganze Skeptizismus und Ästhetizismus eines Dehmel dazu — auch
ihn kenne ich persönlich nicht —, um sich für einen Detlev von Liliencron zu
begeistern," und dann erhalten wir eine Beurteilung der Dehmelschen Lyrik,
mit der wir uus ebenfalls einverstanden erklären. Von geradezu entscheidender
Bedeutung aber ist, was Grotthuß über Nietzsche schreibt, wovon ein paar
Proben in freier Wiedergabe hier stehen mögen. Nietzsche ist gar kein Philo¬
soph. Das Beste, was er geschrieben hat, namentlich der Zarathustra, ist
Gedankenlyrik. Sein ganzes sogenanntes System beruht nicht auf notwendigen
Voraussetzungen und Schlüssen, sondern auf subjektiven Stimmungen, und wie
Stimmungen wechseln und sich widersprechen, so ist auch er in beständigen


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[0318] Zur neuesten Litteraturgeschichte der ältern Litteratur ist umfassend und genau, seine Beobachtung in Bezug auf das, worin die neueste abhängt von der Art ihres Landes und den Zeit¬ ereignissen, scharfsinnig und mannigfaltig. Man hat bei ihm immer den Ein¬ druck, daß es sich um etwas lebendiges handelt, und dies Leben versetzt unsre Gedanken in Mitthätigkeit, während uns seine Fachgenossen oft nur durch her¬ kömmlich eingeschachtelte Kategorien belehren und langweilen. So enthält denn auch dieses Buch unter allen, die über Hauptmann geschrieben worden sind, am meisten durchdachtes und unterrichtendes. Anerkennender aber, milder und weniger scharf in seinem Urteil konnte ein Mann von seinen Ansprüchen un¬ möglich sein. Ehe wir etwas näher darauf eingehen, möchten wir noch ein gleichfalls eben erschienenes Buch von I. E. Frhr. von Grotthuß erwähnen, das unter einem etwas gesuchten Titel: Probleme und Charakterköpfe. Studien zur Litteratur unsrer Zeit (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer), dreizehn einzelne Essays, leicht und elegant geschrieben, aber ernst und vornehm in der Auf¬ fassung, enthält, darunter auch einen über Gerhart Hauptmann. Grotthuß giebt uns entsprechend der Form seines Vortrags an Stelle einer geschlossenen Beweisführung mehr Apercus, aber darum doch nicht weniger sachlichen Gehalt; wer sich über unsre neueste Litteratur ernstlich und doch angenehm unterrichten möchte, der sollte sich diesen Vertrauen erweckenden Führer nicht entgehen lassen. Bis auf den Artikel über Ibsen habe ich das Buch von Anfang bis zu Ende mit Interesse gelesen (über Hendrik Ibsen lese ich über¬ haupt nichts mehr, seit ich mindestens ein halbes Dutzend Bücher über ihn kennen gelernt und gefunden habe, daß schon alles möglicherweise Sagbare über den von ihm gestifteten Nutzen oder Schaden gesagt worden ist); um aber eine bestimmtere Vorstellung zu geben, hebe ich außer einer zutreffenden, kühlen Beleuchtung von Ebers und Felix Dahn neben der etwas wärmern Nichts einen aus dem vollen Herzen kommenden Lobgesang auf Liliencrons kleine Lieder hervor, worin es heißt: „Es gehört die ganze goldne, treuherzige Naivität eines Liliencron dazu — ich habe nicht die Ehre, ihn persönlich zu kennen —, mit einem Richard Dehmel Freundschaft zu schließen. Und es gehört der ganze Skeptizismus und Ästhetizismus eines Dehmel dazu — auch ihn kenne ich persönlich nicht —, um sich für einen Detlev von Liliencron zu begeistern," und dann erhalten wir eine Beurteilung der Dehmelschen Lyrik, mit der wir uus ebenfalls einverstanden erklären. Von geradezu entscheidender Bedeutung aber ist, was Grotthuß über Nietzsche schreibt, wovon ein paar Proben in freier Wiedergabe hier stehen mögen. Nietzsche ist gar kein Philo¬ soph. Das Beste, was er geschrieben hat, namentlich der Zarathustra, ist Gedankenlyrik. Sein ganzes sogenanntes System beruht nicht auf notwendigen Voraussetzungen und Schlüssen, sondern auf subjektiven Stimmungen, und wie Stimmungen wechseln und sich widersprechen, so ist auch er in beständigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/318>, abgerufen am 07.01.2025.