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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie

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Mehrzahl der Bevölkerung des Staates eine Verbindung mit seinem Boden so
bewahrt, daß es auch ihr Boden ist" (S. 9). Durch alle Wandlungen hin¬
durch führt sicher "die Regel: daß jede Beziehung eines Volkes oder Völkchens
zum Boden politische Formen anzunehmen strebt, und daß jedes politische
Gebilde die Verbindung mit dem Boden sucht. . . . Gerade die Verkennung des
politischen Wertes des Bodens (oder des politischen Raumes) legte den Keim
des Todes in die Staaten der Griechen" (21 und 22). "In der großen Be¬
wegung auf immer festere territoriale Begründung der Politik ist die Nationa¬
litätenpolitik unsrer Zeit ohne Zweifel ein Rückschritt. Sie erklärt als das
Prinzip des Staates das Volk einer Sprachgemeinschaft ohne Rücksicht auf den
Boden. Sie wird sich dauernd der geographischen Politik gegenüber nicht be¬
haupten können, die den Boden ins Auge faßt, ohne den Namen und die Art
der Bewohner zu berücksichtigen" (31 bis 32). "Mehr als alles bringt die
Vermehrung des Volkes bei gleichbleibendem Boden Verwirrung in die ein¬
fachen Einrichtungen der Vorzeit" (S. 52 nach Dahlmann). "Ein Land, das
dünn bevölkert oder unbewohnt ist. liegt seinen dichter bevölkerten Nachbar¬
gebieten als ein reines Naturlaut gegenüber," das zum Eintritt lockt (S. 93).
"Die rasche Aufeinanderfolge großer Reiche ^im Altertums giebt die Lehre, daß
nicht in der Größe des Raumes an sich, sondern in der Art der Erfüllung des
Raumes der Zusammenhalt und die Gewähr der Dauer liegt" (176). Ans
dem durch alle Zeiten und Erdteile hindurch gehenden Bestreben der Staaten,
den Nachbarstaaten an Flächeninhalt mindestens gleich zu sein und für jede
Naumeinbuße Kompensationen zu suchen, ersehe man deutlich, heißt es S. 222,
"wie wenig das europäische Gleichgewicht eine diplomatische Erfindung ist."
Ein Blick auf die Karte Europas genügt, zu erkennen, was heute für uns
Deutsche daraus folgt. Wir schließen mit folgenden ^Sätzen für kleindentsche
Philister: "Großräumige Völker sind bessere praktische Geographen als klein-
räumige. Rom, England und die Vereinigten Staaten bewähren einen
politisch-geographischen Blick, der mit ihrer geringen Pflege der theoretischen
Geographie merkwürdig kontrastirt. Die großräumige Politik hat den Vorteil
der weitschichtigen Pläne, die ihrer Zeit vorauseilen; sie steckt ihre Gebiete
lange aus, ehe andre nur daran dachten, daß dort politische Werte zu finden
seien, und kleinere Entwürfe sehen sich plötzlich von einem Netz von zwar
dünnen, aber doch jäh hemmenden Maschen umfaßt" (342 bis 343).




Friedrich Ratzels Völkerkunde und Politische Geographie

200

Mehrzahl der Bevölkerung des Staates eine Verbindung mit seinem Boden so
bewahrt, daß es auch ihr Boden ist" (S. 9). Durch alle Wandlungen hin¬
durch führt sicher „die Regel: daß jede Beziehung eines Volkes oder Völkchens
zum Boden politische Formen anzunehmen strebt, und daß jedes politische
Gebilde die Verbindung mit dem Boden sucht. . . . Gerade die Verkennung des
politischen Wertes des Bodens (oder des politischen Raumes) legte den Keim
des Todes in die Staaten der Griechen" (21 und 22). „In der großen Be¬
wegung auf immer festere territoriale Begründung der Politik ist die Nationa¬
litätenpolitik unsrer Zeit ohne Zweifel ein Rückschritt. Sie erklärt als das
Prinzip des Staates das Volk einer Sprachgemeinschaft ohne Rücksicht auf den
Boden. Sie wird sich dauernd der geographischen Politik gegenüber nicht be¬
haupten können, die den Boden ins Auge faßt, ohne den Namen und die Art
der Bewohner zu berücksichtigen" (31 bis 32). „Mehr als alles bringt die
Vermehrung des Volkes bei gleichbleibendem Boden Verwirrung in die ein¬
fachen Einrichtungen der Vorzeit" (S. 52 nach Dahlmann). »Ein Land, das
dünn bevölkert oder unbewohnt ist. liegt seinen dichter bevölkerten Nachbar¬
gebieten als ein reines Naturlaut gegenüber," das zum Eintritt lockt (S. 93).
„Die rasche Aufeinanderfolge großer Reiche ^im Altertums giebt die Lehre, daß
nicht in der Größe des Raumes an sich, sondern in der Art der Erfüllung des
Raumes der Zusammenhalt und die Gewähr der Dauer liegt" (176). Ans
dem durch alle Zeiten und Erdteile hindurch gehenden Bestreben der Staaten,
den Nachbarstaaten an Flächeninhalt mindestens gleich zu sein und für jede
Naumeinbuße Kompensationen zu suchen, ersehe man deutlich, heißt es S. 222,
„wie wenig das europäische Gleichgewicht eine diplomatische Erfindung ist."
Ein Blick auf die Karte Europas genügt, zu erkennen, was heute für uns
Deutsche daraus folgt. Wir schließen mit folgenden ^Sätzen für kleindentsche
Philister: „Großräumige Völker sind bessere praktische Geographen als klein-
räumige. Rom, England und die Vereinigten Staaten bewähren einen
politisch-geographischen Blick, der mit ihrer geringen Pflege der theoretischen
Geographie merkwürdig kontrastirt. Die großräumige Politik hat den Vorteil
der weitschichtigen Pläne, die ihrer Zeit vorauseilen; sie steckt ihre Gebiete
lange aus, ehe andre nur daran dachten, daß dort politische Werte zu finden
seien, und kleinere Entwürfe sehen sich plötzlich von einem Netz von zwar
dünnen, aber doch jäh hemmenden Maschen umfaßt" (342 bis 343).




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/208>, abgerufen am 07.01.2025.