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Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

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Das Wesen des Staats

Der Staat, uranfänglich und notwendig, wie er ist, ist nicht entstanden
aus irgendwelchem Beschluß oder Vertrag des souveränen Volks, sondern
aus einer Erweiterung der Familie, später durch Unterwerfung schwächerer
Gemeinschaften durch eine stärkere, und der Krieg ist immer die wichtigste
unter den staatenbildenden Kräften geblieben, hinter der alle andern weit
zurückstehen. Daher ist auch der Bestand der Staaten in fortwährender Ver¬
änderung begriffen, sie erweitern ihr Gebiet durch Eroberung, Kolonisation usw.,
und sie verlieren wieder Teile davon. Auch die innern Verhältnisse wandeln
sich beständig, entweder durch friedliche Reformen oder durch Revolutionen.
Die Revolution ist kein Prinzip, sondern ein gewaltsamer Bruch des positiven
Rechts von oben oder von unten her und insofern immer mit einem Unrecht ver¬
knüpft, aber dann notwendig, wenn es kein andres Mittel giebt, einen im
Wesen des Staats liegenden wichtigen Zweck zu erreichen, und gerechtfertigt,
wenn er dauernd erreicht wird.

Der Unterschied zwischen Regierenden und Regierten liegt in der Natur
des Staats, daher auch der Unterschied in der Anschanung vom Staate.
Die der Regierten kommt in der sogenannten öffentlichen Meinung zum Aus¬
druck, doch kann diese auch gröblich irren und ist selten einheitlich, sondern
setzt sich aus deu Ansichten der einzelnen Parteien zusammen. Diese selbst
entstehen und vergehen mit den Interessen, denen sie dienen; rein prinzipielle
Parteien giebt es gar nicht, denn uicht das iäkrn 86vtir<z, sondern das iäöiu
vslls macht die Partei. Wenn die Regierten "Freiheit" fordern, so ist das
zunächst ein negativer Begriff; einen positiven Inhalt giebt ihm erst der
Staat, und zwar nach zwei Richtungen. Die politische Freiheit besteht erstens
in der Teilnahme an der Verwaltung, die notwendig zu einer aristokratischen,
nicht zu einer demokratischen Ordnung führt und eine um so kräftigere Stcmts-
gesinnnug erzeugt, je größere Kreise sie mit den Anschauungen der Regierenden
erfüllt, sodann in einer Reihe von persönlichen Rechten (Sicherung des phy¬
sischen Daseins, der persönlichen Freiheit, des Erwerbs, der Meimmgsäußernng,
der Religionsübung, Gleichheit vor dem Richter usw.); doch sind keine
davon etwa "angeboren," und der Staat kann sie je nach seinem Bedürfnis
erweitern oder einschränken. Die Gleichheit kann er vernünftigerweise nnr dn
gewähren, wo sie der Natur entspricht; daher ist das allgemeine gleiche Stimm¬
recht unvernünftig. Gar nicht anerkennen kann er ein Recht des Wider¬
standes gegen seine eignen ungesetzlichen oder unsittlichen Befehle, denn damit
würde er jedem Unterthanen eine Entscheidung über sich selbst zuerkennen,
also prinzipiell seine Souveränität aufheben. Gleichwohl kann der Wider¬
stand sittlich gerechtfertigt sein, und auf die Dauer wird kein Staat der sittlichen
Zustimmung seines Volkes entbehren können, denn der Satz Ls-in-z oivwiu
suxrsmÄ lex gilt unbedingt.

Wie Dahlmcmns Politik 1832 die Erfahrungen der ersten Zeiten des


Das Wesen des Staats

Der Staat, uranfänglich und notwendig, wie er ist, ist nicht entstanden
aus irgendwelchem Beschluß oder Vertrag des souveränen Volks, sondern
aus einer Erweiterung der Familie, später durch Unterwerfung schwächerer
Gemeinschaften durch eine stärkere, und der Krieg ist immer die wichtigste
unter den staatenbildenden Kräften geblieben, hinter der alle andern weit
zurückstehen. Daher ist auch der Bestand der Staaten in fortwährender Ver¬
änderung begriffen, sie erweitern ihr Gebiet durch Eroberung, Kolonisation usw.,
und sie verlieren wieder Teile davon. Auch die innern Verhältnisse wandeln
sich beständig, entweder durch friedliche Reformen oder durch Revolutionen.
Die Revolution ist kein Prinzip, sondern ein gewaltsamer Bruch des positiven
Rechts von oben oder von unten her und insofern immer mit einem Unrecht ver¬
knüpft, aber dann notwendig, wenn es kein andres Mittel giebt, einen im
Wesen des Staats liegenden wichtigen Zweck zu erreichen, und gerechtfertigt,
wenn er dauernd erreicht wird.

Der Unterschied zwischen Regierenden und Regierten liegt in der Natur
des Staats, daher auch der Unterschied in der Anschanung vom Staate.
Die der Regierten kommt in der sogenannten öffentlichen Meinung zum Aus¬
druck, doch kann diese auch gröblich irren und ist selten einheitlich, sondern
setzt sich aus deu Ansichten der einzelnen Parteien zusammen. Diese selbst
entstehen und vergehen mit den Interessen, denen sie dienen; rein prinzipielle
Parteien giebt es gar nicht, denn uicht das iäkrn 86vtir<z, sondern das iäöiu
vslls macht die Partei. Wenn die Regierten „Freiheit" fordern, so ist das
zunächst ein negativer Begriff; einen positiven Inhalt giebt ihm erst der
Staat, und zwar nach zwei Richtungen. Die politische Freiheit besteht erstens
in der Teilnahme an der Verwaltung, die notwendig zu einer aristokratischen,
nicht zu einer demokratischen Ordnung führt und eine um so kräftigere Stcmts-
gesinnnug erzeugt, je größere Kreise sie mit den Anschauungen der Regierenden
erfüllt, sodann in einer Reihe von persönlichen Rechten (Sicherung des phy¬
sischen Daseins, der persönlichen Freiheit, des Erwerbs, der Meimmgsäußernng,
der Religionsübung, Gleichheit vor dem Richter usw.); doch sind keine
davon etwa „angeboren," und der Staat kann sie je nach seinem Bedürfnis
erweitern oder einschränken. Die Gleichheit kann er vernünftigerweise nnr dn
gewähren, wo sie der Natur entspricht; daher ist das allgemeine gleiche Stimm¬
recht unvernünftig. Gar nicht anerkennen kann er ein Recht des Wider¬
standes gegen seine eignen ungesetzlichen oder unsittlichen Befehle, denn damit
würde er jedem Unterthanen eine Entscheidung über sich selbst zuerkennen,
also prinzipiell seine Souveränität aufheben. Gleichwohl kann der Wider¬
stand sittlich gerechtfertigt sein, und auf die Dauer wird kein Staat der sittlichen
Zustimmung seines Volkes entbehren können, denn der Satz Ls-in-z oivwiu
suxrsmÄ lex gilt unbedingt.

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[0014] Das Wesen des Staats Der Staat, uranfänglich und notwendig, wie er ist, ist nicht entstanden aus irgendwelchem Beschluß oder Vertrag des souveränen Volks, sondern aus einer Erweiterung der Familie, später durch Unterwerfung schwächerer Gemeinschaften durch eine stärkere, und der Krieg ist immer die wichtigste unter den staatenbildenden Kräften geblieben, hinter der alle andern weit zurückstehen. Daher ist auch der Bestand der Staaten in fortwährender Ver¬ änderung begriffen, sie erweitern ihr Gebiet durch Eroberung, Kolonisation usw., und sie verlieren wieder Teile davon. Auch die innern Verhältnisse wandeln sich beständig, entweder durch friedliche Reformen oder durch Revolutionen. Die Revolution ist kein Prinzip, sondern ein gewaltsamer Bruch des positiven Rechts von oben oder von unten her und insofern immer mit einem Unrecht ver¬ knüpft, aber dann notwendig, wenn es kein andres Mittel giebt, einen im Wesen des Staats liegenden wichtigen Zweck zu erreichen, und gerechtfertigt, wenn er dauernd erreicht wird. Der Unterschied zwischen Regierenden und Regierten liegt in der Natur des Staats, daher auch der Unterschied in der Anschanung vom Staate. Die der Regierten kommt in der sogenannten öffentlichen Meinung zum Aus¬ druck, doch kann diese auch gröblich irren und ist selten einheitlich, sondern setzt sich aus deu Ansichten der einzelnen Parteien zusammen. Diese selbst entstehen und vergehen mit den Interessen, denen sie dienen; rein prinzipielle Parteien giebt es gar nicht, denn uicht das iäkrn 86vtir<z, sondern das iäöiu vslls macht die Partei. Wenn die Regierten „Freiheit" fordern, so ist das zunächst ein negativer Begriff; einen positiven Inhalt giebt ihm erst der Staat, und zwar nach zwei Richtungen. Die politische Freiheit besteht erstens in der Teilnahme an der Verwaltung, die notwendig zu einer aristokratischen, nicht zu einer demokratischen Ordnung führt und eine um so kräftigere Stcmts- gesinnnug erzeugt, je größere Kreise sie mit den Anschauungen der Regierenden erfüllt, sodann in einer Reihe von persönlichen Rechten (Sicherung des phy¬ sischen Daseins, der persönlichen Freiheit, des Erwerbs, der Meimmgsäußernng, der Religionsübung, Gleichheit vor dem Richter usw.); doch sind keine davon etwa „angeboren," und der Staat kann sie je nach seinem Bedürfnis erweitern oder einschränken. Die Gleichheit kann er vernünftigerweise nnr dn gewähren, wo sie der Natur entspricht; daher ist das allgemeine gleiche Stimm¬ recht unvernünftig. Gar nicht anerkennen kann er ein Recht des Wider¬ standes gegen seine eignen ungesetzlichen oder unsittlichen Befehle, denn damit würde er jedem Unterthanen eine Entscheidung über sich selbst zuerkennen, also prinzipiell seine Souveränität aufheben. Gleichwohl kann der Wider¬ stand sittlich gerechtfertigt sein, und auf die Dauer wird kein Staat der sittlichen Zustimmung seines Volkes entbehren können, denn der Satz Ls-in-z oivwiu suxrsmÄ lex gilt unbedingt. Wie Dahlmcmns Politik 1832 die Erfahrungen der ersten Zeiten des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/14>, abgerufen am 07.01.2025.