Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Behauptung Bebels: die Arbeiter fänden keine genügende Berücksichtigung im Reich Weit wichtiger aber war das, was der Staatssekretär des Innern am 13. Nicht einen Stillstand, sondern einen Fortschritt in der Sozialpolitik bedeutet Maßgebliches und Unmaßgebliches Behauptung Bebels: die Arbeiter fänden keine genügende Berücksichtigung im Reich Weit wichtiger aber war das, was der Staatssekretär des Innern am 13. Nicht einen Stillstand, sondern einen Fortschritt in der Sozialpolitik bedeutet <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0119" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227021"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_357" prev="#ID_356"> Behauptung Bebels: die Arbeiter fänden keine genügende Berücksichtigung im Reich<lb/> und in den Einzelstaaten, unwahr. Freilich nicht um ein Haar unwahrer als die<lb/> agrarische Behauptung: die Landwirtschaft sei seit Bismarcks Abgang mißhandelt<lb/> worden. Man müßte eigentlich darüber staunen, daß Graf Posadowsky dieser<lb/> agrarischen Unwahrheit gegenüber nicht ein Wort der Entgegnung gefunden hat,<lb/> wenn man nicht wüßte, wie die Sachen nun einmal stehen, und wie sie vollends<lb/> stehen würden, wenn nicht des Kaisers Autorität über den Herren schwebte — nicht<lb/> als toter Zierat, sondern als persönliche aktive Kraft mit höchstem Verantwortlich¬<lb/> keitsgefühl auch für die 1890 er Kundgebungen.</p><lb/> <p xml:id="ID_358"> Weit wichtiger aber war das, was der Staatssekretär des Innern am 13.<lb/> gerade über die Notwendigkeit der Ruhe in der sozialpolitischen Gesetzgebung<lb/> gesagt hat, und seine treffende Zurückweisung der soziale» Vielregiererei. Wir<lb/> müssen in der Sozialpolitik durchaus einmal zur Ruhe, zur Besinnung, zum Ver¬<lb/> dauen kommen, wenn der soziale Fortschritt nicht zum Rückschritt werden soll. Je<lb/> entschiedner die Regierung jede Aussicht des durch den stnatssozialistischen Doktri¬<lb/> narismus im Laufe der letzten zehn Jahre in Masse gezüchteten Strebertums ver¬<lb/> nichtet, wieder einmal in der Gesetzgebung und in der Verwaltung seinen Thaten¬<lb/> drang befriedigen zu können, um so eher wird es möglich sein, in der Praxis und<lb/> in der Wissenschaft der Sozialpolitik zu der Ruhe zu gelangen, die die Vor¬<lb/> bedingung für dauernde, segensreiche Erfolge ist. Von diesem Gesichtspunkt aus<lb/> hat mau die Erklärungen des Grafen Posadowsky im Interesse des wahren<lb/> sozialpolitischen Fortschritts aufs wärmste zu begrüßen, und man kann mir<lb/> wünschen, daß die Thaten den Worten entsprechen mögen. In der Praxis wie<lb/> in der Wissenschaft hat uns die Sucht nach Neuem und die Anmaßung und Ein¬<lb/> seitigkeit der Neuen auf den Holzweg geführt, der zur Vernichtung des sittlichen<lb/> Wertes der Individuen, zur Aufhebung der sozialen Pflicht und der Verantwortung<lb/> der Einzelnen und damit zum Verfall des Ganzen fahren muß. Da ist Ruhe<lb/> und Beruhigung zu schaffen die dringendste Aufgabe der Staatsgewalt als sozialer<lb/> Heilanstalt. Brom kann sie nicht verschreiben, und Zwangsjacke und Gununizelle<lb/> würden wahrscheinlich mehr aufregen als beruhigen. Der Kraute muß vor allem<lb/> von der überlegnen Unbeugsamkeit des Arztes dem Größenwahn und der Rcform-<lb/> sucht gegenüber überzeugt werden, wenn er zur Vernunft kommen soll. Damit ist<lb/> hoffentlich jetzt der Anfang gemacht, und wer noch gesunden Sinn behalten hat<lb/> unter den Freunde» sozialen Fortschritts, der sollte den Staat kräftig in seinem<lb/> Beruhigungsverfahren unterstützen.</p><lb/> <p xml:id="ID_359"> Nicht einen Stillstand, sondern einen Fortschritt in der Sozialpolitik bedeutet<lb/> diese Ruhe, es sei denn, daß man das Ausbrüten neuer sozialpolitischer Probleme<lb/> und ihre Ausgestaltung zu Gesetzespnragraphen als Selbstzweck betrachtete. Wer<lb/> die Besserung der sozialen Lage und die Sicherung des sozialen Friedens als Zweck<lb/> der Sozialpolitik des Reichs anerkennt, der hat auch die Ruhe, die nach dem<lb/> Willen der verbündeten Regierungen jetzt in den äußern Reformen eintreten soll,<lb/> als unerläßliches Mittel zum Zweck zu begrüßen. Freilich, wer mit den Menschen<lb/> umspringen zu dürfen glaubt, wie der Chemiker mit Atomen, wer die unberechen¬<lb/> baren und unbezwingbaren Regungen im Menschenherzen, die guten wie die bösen,<lb/> und die tausenderlei Kombinationen von Dummheit und Klugheit im Menschenkopfe<lb/> nicht kennt und nicht berücksichtigt, der kann das nicht verstehen. Aber der soll<lb/> auch den Staatsmann und Sozialpolitiker nur in der Studirstube spielen. Vor<lb/> den Leuten soll er den Mund halten, ja schon im Hörsaal wird er mehr schaden<lb/> als nützen.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0119]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Behauptung Bebels: die Arbeiter fänden keine genügende Berücksichtigung im Reich
und in den Einzelstaaten, unwahr. Freilich nicht um ein Haar unwahrer als die
agrarische Behauptung: die Landwirtschaft sei seit Bismarcks Abgang mißhandelt
worden. Man müßte eigentlich darüber staunen, daß Graf Posadowsky dieser
agrarischen Unwahrheit gegenüber nicht ein Wort der Entgegnung gefunden hat,
wenn man nicht wüßte, wie die Sachen nun einmal stehen, und wie sie vollends
stehen würden, wenn nicht des Kaisers Autorität über den Herren schwebte — nicht
als toter Zierat, sondern als persönliche aktive Kraft mit höchstem Verantwortlich¬
keitsgefühl auch für die 1890 er Kundgebungen.
Weit wichtiger aber war das, was der Staatssekretär des Innern am 13.
gerade über die Notwendigkeit der Ruhe in der sozialpolitischen Gesetzgebung
gesagt hat, und seine treffende Zurückweisung der soziale» Vielregiererei. Wir
müssen in der Sozialpolitik durchaus einmal zur Ruhe, zur Besinnung, zum Ver¬
dauen kommen, wenn der soziale Fortschritt nicht zum Rückschritt werden soll. Je
entschiedner die Regierung jede Aussicht des durch den stnatssozialistischen Doktri¬
narismus im Laufe der letzten zehn Jahre in Masse gezüchteten Strebertums ver¬
nichtet, wieder einmal in der Gesetzgebung und in der Verwaltung seinen Thaten¬
drang befriedigen zu können, um so eher wird es möglich sein, in der Praxis und
in der Wissenschaft der Sozialpolitik zu der Ruhe zu gelangen, die die Vor¬
bedingung für dauernde, segensreiche Erfolge ist. Von diesem Gesichtspunkt aus
hat mau die Erklärungen des Grafen Posadowsky im Interesse des wahren
sozialpolitischen Fortschritts aufs wärmste zu begrüßen, und man kann mir
wünschen, daß die Thaten den Worten entsprechen mögen. In der Praxis wie
in der Wissenschaft hat uns die Sucht nach Neuem und die Anmaßung und Ein¬
seitigkeit der Neuen auf den Holzweg geführt, der zur Vernichtung des sittlichen
Wertes der Individuen, zur Aufhebung der sozialen Pflicht und der Verantwortung
der Einzelnen und damit zum Verfall des Ganzen fahren muß. Da ist Ruhe
und Beruhigung zu schaffen die dringendste Aufgabe der Staatsgewalt als sozialer
Heilanstalt. Brom kann sie nicht verschreiben, und Zwangsjacke und Gununizelle
würden wahrscheinlich mehr aufregen als beruhigen. Der Kraute muß vor allem
von der überlegnen Unbeugsamkeit des Arztes dem Größenwahn und der Rcform-
sucht gegenüber überzeugt werden, wenn er zur Vernunft kommen soll. Damit ist
hoffentlich jetzt der Anfang gemacht, und wer noch gesunden Sinn behalten hat
unter den Freunde» sozialen Fortschritts, der sollte den Staat kräftig in seinem
Beruhigungsverfahren unterstützen.
Nicht einen Stillstand, sondern einen Fortschritt in der Sozialpolitik bedeutet
diese Ruhe, es sei denn, daß man das Ausbrüten neuer sozialpolitischer Probleme
und ihre Ausgestaltung zu Gesetzespnragraphen als Selbstzweck betrachtete. Wer
die Besserung der sozialen Lage und die Sicherung des sozialen Friedens als Zweck
der Sozialpolitik des Reichs anerkennt, der hat auch die Ruhe, die nach dem
Willen der verbündeten Regierungen jetzt in den äußern Reformen eintreten soll,
als unerläßliches Mittel zum Zweck zu begrüßen. Freilich, wer mit den Menschen
umspringen zu dürfen glaubt, wie der Chemiker mit Atomen, wer die unberechen¬
baren und unbezwingbaren Regungen im Menschenherzen, die guten wie die bösen,
und die tausenderlei Kombinationen von Dummheit und Klugheit im Menschenkopfe
nicht kennt und nicht berücksichtigt, der kann das nicht verstehen. Aber der soll
auch den Staatsmann und Sozialpolitiker nur in der Studirstube spielen. Vor
den Leuten soll er den Mund halten, ja schon im Hörsaal wird er mehr schaden
als nützen.
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