Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Raufleute im Raiserhof

Es sind schwere Beschuldigungen, die in den Oldenbergschen Behauptungen
der Kaufmannschaft gemacht werden, und es ist deshalb doppelt zu beklagen,
daß ihnen durch die Stellung eines Teils des deutschen "Kapitals" zur Flottcn-
frage ein Schein von Berechtigung verliehen worden ist. Es wäre verkehrt,
diesem Vorurteil, diesem tiefen Mißtrauen gegen die Kaufmannschaft gegenüber
den Vogel Strauß spielen und sich so stellen zu wollen, als ob das alles nur
gegen Börsenjobber gemünzt sei, als ob man durch etwas Schutzzöllnertum
und Zunftfreuudlichkeit das Patent für "nationale Wirtschaftspolitik" erhalten
könne. Es gilt endlich offen und ehrlich, einer für alle und alle für einen,
dem Unsinn und der Lüge von der Unverträglichkeit des sogenannten "Kapitals"
mit der Vaterlandsliebe entgegenzutreten. Das deutsche Volk braucht mehr
als je Vertrauen zu seinen Kapitalisten, und das wird denn auch nicht fehlen,
wenn sich unsre Großhändler und Großindustriellen freimütig und öffentlich
bekennen als das, was sie fortan sein müssen: die zuverlässigen Stützen der
kaiserlichen Politik, die treuen Vorkämpfer des Deutschtums überall, mögen sie
Juden sein oder Christen.

Zum Schluß noch einen kurzen Hinweis auf die ganz außerordentliche
Bedeutung der Leistungen unsrer Kaufmannschaft für das soziale Gebiet. Man
streitet unnötig viel über das Plus und Minus der landwirtschaftlichen und
der industriellen Bevölkerung; darüber, ob das Reich schon als ein Industrie¬
staat bezeichnet werden soll oder noch als ein Agrarstciat. Danken wir dem
Himmel, daß unsre Landwirtschaft die unverwüstliche Gesundheit und Lebens¬
kraft hat, die sie vor der Rolle der großbritannischen und irischen bewahren
wird, auch wenn sich die industrielle Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten
verdoppelt und verdreifacht. Wer die englische Eigentumsverteilung von land¬
wirtschaftlichen Grund und Boden in Verbindung mit der natürlichen Be¬
schaffenheit des Gesamtareals gehörig in Rechnung stellt, wird die Unvergleich¬
barkeit der englischen und der deutschen agrarischen Entwicklung einsehen und
aufhören, die englischen Zustände als Schreckgespenst hinzustellen. Das,
wonach man heute bei uns fragen muß, ist das Verhältnis der industriellen
Arbeit Deutschlands zu der andrer Industriestaaten, namentlich Englands,
Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Zahl der von
der Industrie lebenden und deshalb in zunehmendem Maße vom überseeischen
Handel abhängigen erwerbsthütigen Leute mit ihren Familien. Und da lehrt
nun die Statistik, daß Deutschland thatsächlich schon an der Spitze der ge¬
nannten Industriestaaten marschiert. Es ist mit seinen 8300000 in der In¬
dustrie beschäftigten Personen Frankreich um fast 4000000 voraus, den
Vereinigten Staaten um mehr als 3000000. Wenn Großbritannien mit
Irland nach dem Zensus von 1891 in der InöustriAl olklss 9000000 erwerbs-
thätigc Menschen gezählt hat, so ist ein großer Teil auf die Händler mit
Jndustrieprodukten, die dabei mit gezählt sind, abzurechnen, sicher nicht unter


Die Raufleute im Raiserhof

Es sind schwere Beschuldigungen, die in den Oldenbergschen Behauptungen
der Kaufmannschaft gemacht werden, und es ist deshalb doppelt zu beklagen,
daß ihnen durch die Stellung eines Teils des deutschen „Kapitals" zur Flottcn-
frage ein Schein von Berechtigung verliehen worden ist. Es wäre verkehrt,
diesem Vorurteil, diesem tiefen Mißtrauen gegen die Kaufmannschaft gegenüber
den Vogel Strauß spielen und sich so stellen zu wollen, als ob das alles nur
gegen Börsenjobber gemünzt sei, als ob man durch etwas Schutzzöllnertum
und Zunftfreuudlichkeit das Patent für „nationale Wirtschaftspolitik" erhalten
könne. Es gilt endlich offen und ehrlich, einer für alle und alle für einen,
dem Unsinn und der Lüge von der Unverträglichkeit des sogenannten „Kapitals"
mit der Vaterlandsliebe entgegenzutreten. Das deutsche Volk braucht mehr
als je Vertrauen zu seinen Kapitalisten, und das wird denn auch nicht fehlen,
wenn sich unsre Großhändler und Großindustriellen freimütig und öffentlich
bekennen als das, was sie fortan sein müssen: die zuverlässigen Stützen der
kaiserlichen Politik, die treuen Vorkämpfer des Deutschtums überall, mögen sie
Juden sein oder Christen.

Zum Schluß noch einen kurzen Hinweis auf die ganz außerordentliche
Bedeutung der Leistungen unsrer Kaufmannschaft für das soziale Gebiet. Man
streitet unnötig viel über das Plus und Minus der landwirtschaftlichen und
der industriellen Bevölkerung; darüber, ob das Reich schon als ein Industrie¬
staat bezeichnet werden soll oder noch als ein Agrarstciat. Danken wir dem
Himmel, daß unsre Landwirtschaft die unverwüstliche Gesundheit und Lebens¬
kraft hat, die sie vor der Rolle der großbritannischen und irischen bewahren
wird, auch wenn sich die industrielle Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten
verdoppelt und verdreifacht. Wer die englische Eigentumsverteilung von land¬
wirtschaftlichen Grund und Boden in Verbindung mit der natürlichen Be¬
schaffenheit des Gesamtareals gehörig in Rechnung stellt, wird die Unvergleich¬
barkeit der englischen und der deutschen agrarischen Entwicklung einsehen und
aufhören, die englischen Zustände als Schreckgespenst hinzustellen. Das,
wonach man heute bei uns fragen muß, ist das Verhältnis der industriellen
Arbeit Deutschlands zu der andrer Industriestaaten, namentlich Englands,
Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Zahl der von
der Industrie lebenden und deshalb in zunehmendem Maße vom überseeischen
Handel abhängigen erwerbsthütigen Leute mit ihren Familien. Und da lehrt
nun die Statistik, daß Deutschland thatsächlich schon an der Spitze der ge¬
nannten Industriestaaten marschiert. Es ist mit seinen 8300000 in der In¬
dustrie beschäftigten Personen Frankreich um fast 4000000 voraus, den
Vereinigten Staaten um mehr als 3000000. Wenn Großbritannien mit
Irland nach dem Zensus von 1891 in der InöustriAl olklss 9000000 erwerbs-
thätigc Menschen gezählt hat, so ist ein großer Teil auf die Händler mit
Jndustrieprodukten, die dabei mit gezählt sind, abzurechnen, sicher nicht unter


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0110" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/227012"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Raufleute im Raiserhof</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_317"> Es sind schwere Beschuldigungen, die in den Oldenbergschen Behauptungen<lb/>
der Kaufmannschaft gemacht werden, und es ist deshalb doppelt zu beklagen,<lb/>
daß ihnen durch die Stellung eines Teils des deutschen &#x201E;Kapitals" zur Flottcn-<lb/>
frage ein Schein von Berechtigung verliehen worden ist. Es wäre verkehrt,<lb/>
diesem Vorurteil, diesem tiefen Mißtrauen gegen die Kaufmannschaft gegenüber<lb/>
den Vogel Strauß spielen und sich so stellen zu wollen, als ob das alles nur<lb/>
gegen Börsenjobber gemünzt sei, als ob man durch etwas Schutzzöllnertum<lb/>
und Zunftfreuudlichkeit das Patent für &#x201E;nationale Wirtschaftspolitik" erhalten<lb/>
könne. Es gilt endlich offen und ehrlich, einer für alle und alle für einen,<lb/>
dem Unsinn und der Lüge von der Unverträglichkeit des sogenannten &#x201E;Kapitals"<lb/>
mit der Vaterlandsliebe entgegenzutreten. Das deutsche Volk braucht mehr<lb/>
als je Vertrauen zu seinen Kapitalisten, und das wird denn auch nicht fehlen,<lb/>
wenn sich unsre Großhändler und Großindustriellen freimütig und öffentlich<lb/>
bekennen als das, was sie fortan sein müssen: die zuverlässigen Stützen der<lb/>
kaiserlichen Politik, die treuen Vorkämpfer des Deutschtums überall, mögen sie<lb/>
Juden sein oder Christen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_318" next="#ID_319"> Zum Schluß noch einen kurzen Hinweis auf die ganz außerordentliche<lb/>
Bedeutung der Leistungen unsrer Kaufmannschaft für das soziale Gebiet. Man<lb/>
streitet unnötig viel über das Plus und Minus der landwirtschaftlichen und<lb/>
der industriellen Bevölkerung; darüber, ob das Reich schon als ein Industrie¬<lb/>
staat bezeichnet werden soll oder noch als ein Agrarstciat. Danken wir dem<lb/>
Himmel, daß unsre Landwirtschaft die unverwüstliche Gesundheit und Lebens¬<lb/>
kraft hat, die sie vor der Rolle der großbritannischen und irischen bewahren<lb/>
wird, auch wenn sich die industrielle Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten<lb/>
verdoppelt und verdreifacht. Wer die englische Eigentumsverteilung von land¬<lb/>
wirtschaftlichen Grund und Boden in Verbindung mit der natürlichen Be¬<lb/>
schaffenheit des Gesamtareals gehörig in Rechnung stellt, wird die Unvergleich¬<lb/>
barkeit der englischen und der deutschen agrarischen Entwicklung einsehen und<lb/>
aufhören, die englischen Zustände als Schreckgespenst hinzustellen. Das,<lb/>
wonach man heute bei uns fragen muß, ist das Verhältnis der industriellen<lb/>
Arbeit Deutschlands zu der andrer Industriestaaten, namentlich Englands,<lb/>
Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Zahl der von<lb/>
der Industrie lebenden und deshalb in zunehmendem Maße vom überseeischen<lb/>
Handel abhängigen erwerbsthütigen Leute mit ihren Familien. Und da lehrt<lb/>
nun die Statistik, daß Deutschland thatsächlich schon an der Spitze der ge¬<lb/>
nannten Industriestaaten marschiert. Es ist mit seinen 8300000 in der In¬<lb/>
dustrie beschäftigten Personen Frankreich um fast 4000000 voraus, den<lb/>
Vereinigten Staaten um mehr als 3000000. Wenn Großbritannien mit<lb/>
Irland nach dem Zensus von 1891 in der InöustriAl olklss 9000000 erwerbs-<lb/>
thätigc Menschen gezählt hat, so ist ein großer Teil auf die Händler mit<lb/>
Jndustrieprodukten, die dabei mit gezählt sind, abzurechnen, sicher nicht unter</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0110] Die Raufleute im Raiserhof Es sind schwere Beschuldigungen, die in den Oldenbergschen Behauptungen der Kaufmannschaft gemacht werden, und es ist deshalb doppelt zu beklagen, daß ihnen durch die Stellung eines Teils des deutschen „Kapitals" zur Flottcn- frage ein Schein von Berechtigung verliehen worden ist. Es wäre verkehrt, diesem Vorurteil, diesem tiefen Mißtrauen gegen die Kaufmannschaft gegenüber den Vogel Strauß spielen und sich so stellen zu wollen, als ob das alles nur gegen Börsenjobber gemünzt sei, als ob man durch etwas Schutzzöllnertum und Zunftfreuudlichkeit das Patent für „nationale Wirtschaftspolitik" erhalten könne. Es gilt endlich offen und ehrlich, einer für alle und alle für einen, dem Unsinn und der Lüge von der Unverträglichkeit des sogenannten „Kapitals" mit der Vaterlandsliebe entgegenzutreten. Das deutsche Volk braucht mehr als je Vertrauen zu seinen Kapitalisten, und das wird denn auch nicht fehlen, wenn sich unsre Großhändler und Großindustriellen freimütig und öffentlich bekennen als das, was sie fortan sein müssen: die zuverlässigen Stützen der kaiserlichen Politik, die treuen Vorkämpfer des Deutschtums überall, mögen sie Juden sein oder Christen. Zum Schluß noch einen kurzen Hinweis auf die ganz außerordentliche Bedeutung der Leistungen unsrer Kaufmannschaft für das soziale Gebiet. Man streitet unnötig viel über das Plus und Minus der landwirtschaftlichen und der industriellen Bevölkerung; darüber, ob das Reich schon als ein Industrie¬ staat bezeichnet werden soll oder noch als ein Agrarstciat. Danken wir dem Himmel, daß unsre Landwirtschaft die unverwüstliche Gesundheit und Lebens¬ kraft hat, die sie vor der Rolle der großbritannischen und irischen bewahren wird, auch wenn sich die industrielle Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten verdoppelt und verdreifacht. Wer die englische Eigentumsverteilung von land¬ wirtschaftlichen Grund und Boden in Verbindung mit der natürlichen Be¬ schaffenheit des Gesamtareals gehörig in Rechnung stellt, wird die Unvergleich¬ barkeit der englischen und der deutschen agrarischen Entwicklung einsehen und aufhören, die englischen Zustände als Schreckgespenst hinzustellen. Das, wonach man heute bei uns fragen muß, ist das Verhältnis der industriellen Arbeit Deutschlands zu der andrer Industriestaaten, namentlich Englands, Frankreichs und der Vereinigten Staaten von Nordamerika, die Zahl der von der Industrie lebenden und deshalb in zunehmendem Maße vom überseeischen Handel abhängigen erwerbsthütigen Leute mit ihren Familien. Und da lehrt nun die Statistik, daß Deutschland thatsächlich schon an der Spitze der ge¬ nannten Industriestaaten marschiert. Es ist mit seinen 8300000 in der In¬ dustrie beschäftigten Personen Frankreich um fast 4000000 voraus, den Vereinigten Staaten um mehr als 3000000. Wenn Großbritannien mit Irland nach dem Zensus von 1891 in der InöustriAl olklss 9000000 erwerbs- thätigc Menschen gezählt hat, so ist ein großer Teil auf die Händler mit Jndustrieprodukten, die dabei mit gezählt sind, abzurechnen, sicher nicht unter

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/110
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_226901/110>, abgerufen am 07.01.2025.