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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Veto Gildeineisters Essays

brauchen, weil wir uns gerade mit der altflorentinischen Geschichte beschäftigen
müssen? Und wie wenige siud es, die an dieser Geschichte Interesse haben!
Aber Macaulay fesselt seine Leser gleich im Anfang dadurch, daß er ihre
Neugier auf ein scheinbar unlösliches Problem spannt: wie kommt es, daß
wir Machiavellis Buch vom Fürsten als Inbegriff alles schrecklichen nennen
hören und nicht ohne Grauen lesen können, und doch in keinem Buche mehr
Hoheit des Gefühls, mehr naiven Eifer für das öffentliche Wohl und eine
richtigere Auffassung bürgerlicher Rechte und Pflichten finden als in diesem,
und unter welchen Umstünden konnte sich ein menschlicher Geist ausbilden, der
dieses Buch hervorbrachte? "Konventionelle Moral" ist ein Begriff, mit dem
die wenigsten, die ihn anwenden, eine deutliche Vorstellung verbinden. Macaulay
bringt ihn dem gewöhnlichsten Verstände nahe, er verwandelt ihn in eine hand¬
greifliche geschichtliche Thatsache, indem er schildert, wie sich in dem Italien
des spätern Mittelalters zuerst die rauhen, ritterlichen Tugenden des Mutes,
der Stärke und der Tapferkeit, die im Norden Europas noch länger herrschen,
infolge des höhern Wohlstandes, des kaufmännischen Verkehrs, des feinern,
städtischen Lebens umsetzen in Klugheit, Berechnung, List und Verschlagenheit.
Das Waffeuhmidwcrk geht allmählich an die Söldner über, uuter denen sich
der Begriff der Ehre verändern muß, die bezahlende Stadtrcpublik liefert dazu
die Kopfarbeiter, die höher organisirten Kräfte, die Leiter, Unterhändler,
Diplomaten. Die eigne, bürgerliche Wehrkraft verfiel, und die Verteidigungs¬
fähigkeit der italienischem Staaten geriet in Nachteil gegen die Übermacht der
auswärtigen Heere. Mit Mut und Kühnheit war da nichts mehr auszurichten,
Wohl aber mit Scharfsinn und Geschick, mit fruchtbarer Erfindung, schneller
Beobachtung, endlich mit Trug und Heuchelei. So entsteht in Italien ein
andrer militärischer Ehrenpunkt und eine andre öffentliche Moral. Für den
Italiener wird der Kampf zu einem Kunststück, .er bewundert nicht die auf¬
gewandte Kraft oder die Lebenöverachtuug wie der Nordländer, sondern die
Listigen Mittel, das Unerwartete einer Berechnung, das Gelingen eines An¬
schlags; der Überfall gilt mehr als die Feldschlacht. Nun macht Macaulay
die Anwendung auf Machiavelli. Ob die Erklärung psychologisch zutrifft auf
ihn, ist vielleicht zweifelhaft, daß aber die Analyse in sich wundervoll ist,
leuchtet jedem ein, und der Leser hat ein prächtiges, lebensvolles Zeitbild
mit vielen gelegentlichen Ausblicken auf die Gesellschaft der andern europäischen
Länder. Wenn er fertig ist, wird es ihm vorkommen, als hätte er sich schon
immer für Machiavelli interessirt.

Das also ist die Kunst Macaulays in ihrer Wirkung. Wo liegen aber
ehre Wurzeln, wie hängen sie mit der Kultur des Landes zusammen, und in¬
wiefern ist diese Kunst wieder etwas persönliches des einzelnen Mannes?
Macaulay gehörte zu den seltnen Männern, deren Mitteilungen, wie die
Ciceros oder Burkes, ob gesprochen oder geschrieben, sich dasselbe Lob erworben


Veto Gildeineisters Essays

brauchen, weil wir uns gerade mit der altflorentinischen Geschichte beschäftigen
müssen? Und wie wenige siud es, die an dieser Geschichte Interesse haben!
Aber Macaulay fesselt seine Leser gleich im Anfang dadurch, daß er ihre
Neugier auf ein scheinbar unlösliches Problem spannt: wie kommt es, daß
wir Machiavellis Buch vom Fürsten als Inbegriff alles schrecklichen nennen
hören und nicht ohne Grauen lesen können, und doch in keinem Buche mehr
Hoheit des Gefühls, mehr naiven Eifer für das öffentliche Wohl und eine
richtigere Auffassung bürgerlicher Rechte und Pflichten finden als in diesem,
und unter welchen Umstünden konnte sich ein menschlicher Geist ausbilden, der
dieses Buch hervorbrachte? „Konventionelle Moral" ist ein Begriff, mit dem
die wenigsten, die ihn anwenden, eine deutliche Vorstellung verbinden. Macaulay
bringt ihn dem gewöhnlichsten Verstände nahe, er verwandelt ihn in eine hand¬
greifliche geschichtliche Thatsache, indem er schildert, wie sich in dem Italien
des spätern Mittelalters zuerst die rauhen, ritterlichen Tugenden des Mutes,
der Stärke und der Tapferkeit, die im Norden Europas noch länger herrschen,
infolge des höhern Wohlstandes, des kaufmännischen Verkehrs, des feinern,
städtischen Lebens umsetzen in Klugheit, Berechnung, List und Verschlagenheit.
Das Waffeuhmidwcrk geht allmählich an die Söldner über, uuter denen sich
der Begriff der Ehre verändern muß, die bezahlende Stadtrcpublik liefert dazu
die Kopfarbeiter, die höher organisirten Kräfte, die Leiter, Unterhändler,
Diplomaten. Die eigne, bürgerliche Wehrkraft verfiel, und die Verteidigungs¬
fähigkeit der italienischem Staaten geriet in Nachteil gegen die Übermacht der
auswärtigen Heere. Mit Mut und Kühnheit war da nichts mehr auszurichten,
Wohl aber mit Scharfsinn und Geschick, mit fruchtbarer Erfindung, schneller
Beobachtung, endlich mit Trug und Heuchelei. So entsteht in Italien ein
andrer militärischer Ehrenpunkt und eine andre öffentliche Moral. Für den
Italiener wird der Kampf zu einem Kunststück, .er bewundert nicht die auf¬
gewandte Kraft oder die Lebenöverachtuug wie der Nordländer, sondern die
Listigen Mittel, das Unerwartete einer Berechnung, das Gelingen eines An¬
schlags; der Überfall gilt mehr als die Feldschlacht. Nun macht Macaulay
die Anwendung auf Machiavelli. Ob die Erklärung psychologisch zutrifft auf
ihn, ist vielleicht zweifelhaft, daß aber die Analyse in sich wundervoll ist,
leuchtet jedem ein, und der Leser hat ein prächtiges, lebensvolles Zeitbild
mit vielen gelegentlichen Ausblicken auf die Gesellschaft der andern europäischen
Länder. Wenn er fertig ist, wird es ihm vorkommen, als hätte er sich schon
immer für Machiavelli interessirt.

Das also ist die Kunst Macaulays in ihrer Wirkung. Wo liegen aber
ehre Wurzeln, wie hängen sie mit der Kultur des Landes zusammen, und in¬
wiefern ist diese Kunst wieder etwas persönliches des einzelnen Mannes?
Macaulay gehörte zu den seltnen Männern, deren Mitteilungen, wie die
Ciceros oder Burkes, ob gesprochen oder geschrieben, sich dasselbe Lob erworben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/93>, abgerufen am 22.07.2024.