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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

stellungsform betrachtet werden dürfen, in der der Mensch die Idee des un¬
vergänglichen Wertes der sittlichen Güter seinem Gemüte nahe bringt. Diese
Idee schließt aber die Überzeugung von der UnVergänglichkeit des Geistes in
dem Sinne in sich, daß. weil der Geist selbst nur als unablässiges Werden
und Schaffen zu denken ist, jede geistige Kraft ihren unvergänglichen Wert in
dem Werdeprozeß des Geistes behauptet----Die Philosophie kann nur diesen
nllgemeingiltigen Gehalt der Unsterblichkeitsidce darthun, indem sie zugleich
jede hedvmstische Begründung zurückweist und darauf dringt, daß der objektive
Wert der geistigen Güter, der die Unvergänglichkeit derselben zu einer prak¬
tischen Forderung macht, als der einzige Rechtsgrund sür die Annahme einer
Unzerstörbarkeit der geistigen Entwicklung gelte. So endet die philosophische
Betrachtung der Religion bei dem nämlichen Begriff des objektiven geistigen
Wertes, bei dem die Untersuchung des sittlichen Lebens angelangt war. Diese
hatte gezeigt, daß die geistigen Güter um ihrer selbst, uicht um der sie be¬
gleitenden Glücksgefühle willen erstrebt und geschätzt werden sollen. Die reli¬
giöse Betrachtung erhebt dies für die empirische Beurteilung sittlicher Hand¬
lungen giltige Prinzip zu der Forderung, daß alle geistigen Schöpfungen einen
absoluten, unzerstörbaren Wert besitzen." Auf diesen letzten Satz, der in der
Ethik in etwas andrer Form vorkommt (Zweckobjekt der geistigen Schöpfungen
sei nicht der einzelne Geist, sondern der "allgemeine Geist der Menschheit"), ist
W der Rezension dieses Werkes (Grenzboten 1892, Bd. 4, S. 109) geant¬
wortet worden: "Wir bestreikn entschieden, daß sich Wundt selbst oder irgend
jemand in der Welt unter dem allgemeinen Geist der Menschheit etwas zu
denken vermöge. Eine geistige Schöpfung mag so groß und erhaben sein, wie
sie will, sie bleibt nicht allein die Schöpfung einer Anzahl von Einzelgeistern,
sondern ihr ganzer Wert, ja ihre Existenz steht und fällt mit den Einzel¬
geistern, die sie begreifen und benutzen oder genießen. Denken wir uns, daß
alle Exemplare der Bibel, oder von Goethes Faust, oder vom Lorxus ^uris,
"der von unserm Unfallversichcrungsgesetz in einem verschütteten Keller lägen
und niemand mehr etwas von ihnen wüßte, so wären diese geistigen Schöpfungen
einfach nicht mehr vorhanden oder nur noch potentiell vorhanden, bis vielleicht
ein Zufall sie wieder zum aktuellen Dasein, d. h. zum Dasein in Jndividal-
geistern erweckte." Und was sind objektive geistige, objektive sittliche Werte?
Es giebt keine objektiven Werte außerhalb des bewußten Geistes; was in keinem
wizigen bewußten Geiste, also in keinem Einzelgeiste vorhanden ist. das ist
gar nicht oder so gut wie gar uicht vorhanden und daher auch nichts wert.
Und woran messen wir die verschiednen Werte? An dem Nutzen oder Genuß,
den sie irgend welchen Einzelwesen gewähren, bestünde dieser Genuß auch nur
der ästhetischen Befriedigung des sie Betrachtenden, die darum, weil sie der
Mühle Genuß ist, noch lauge nicht der schlechteste ist. Die objektiven Werte
serfüeßen überall in Redensarten und in nichts, ausgenommen im christlichen


Zwei philosophische Systeme

stellungsform betrachtet werden dürfen, in der der Mensch die Idee des un¬
vergänglichen Wertes der sittlichen Güter seinem Gemüte nahe bringt. Diese
Idee schließt aber die Überzeugung von der UnVergänglichkeit des Geistes in
dem Sinne in sich, daß. weil der Geist selbst nur als unablässiges Werden
und Schaffen zu denken ist, jede geistige Kraft ihren unvergänglichen Wert in
dem Werdeprozeß des Geistes behauptet----Die Philosophie kann nur diesen
nllgemeingiltigen Gehalt der Unsterblichkeitsidce darthun, indem sie zugleich
jede hedvmstische Begründung zurückweist und darauf dringt, daß der objektive
Wert der geistigen Güter, der die Unvergänglichkeit derselben zu einer prak¬
tischen Forderung macht, als der einzige Rechtsgrund sür die Annahme einer
Unzerstörbarkeit der geistigen Entwicklung gelte. So endet die philosophische
Betrachtung der Religion bei dem nämlichen Begriff des objektiven geistigen
Wertes, bei dem die Untersuchung des sittlichen Lebens angelangt war. Diese
hatte gezeigt, daß die geistigen Güter um ihrer selbst, uicht um der sie be¬
gleitenden Glücksgefühle willen erstrebt und geschätzt werden sollen. Die reli¬
giöse Betrachtung erhebt dies für die empirische Beurteilung sittlicher Hand¬
lungen giltige Prinzip zu der Forderung, daß alle geistigen Schöpfungen einen
absoluten, unzerstörbaren Wert besitzen." Auf diesen letzten Satz, der in der
Ethik in etwas andrer Form vorkommt (Zweckobjekt der geistigen Schöpfungen
sei nicht der einzelne Geist, sondern der „allgemeine Geist der Menschheit"), ist
W der Rezension dieses Werkes (Grenzboten 1892, Bd. 4, S. 109) geant¬
wortet worden: „Wir bestreikn entschieden, daß sich Wundt selbst oder irgend
jemand in der Welt unter dem allgemeinen Geist der Menschheit etwas zu
denken vermöge. Eine geistige Schöpfung mag so groß und erhaben sein, wie
sie will, sie bleibt nicht allein die Schöpfung einer Anzahl von Einzelgeistern,
sondern ihr ganzer Wert, ja ihre Existenz steht und fällt mit den Einzel¬
geistern, die sie begreifen und benutzen oder genießen. Denken wir uns, daß
alle Exemplare der Bibel, oder von Goethes Faust, oder vom Lorxus ^uris,
"der von unserm Unfallversichcrungsgesetz in einem verschütteten Keller lägen
und niemand mehr etwas von ihnen wüßte, so wären diese geistigen Schöpfungen
einfach nicht mehr vorhanden oder nur noch potentiell vorhanden, bis vielleicht
ein Zufall sie wieder zum aktuellen Dasein, d. h. zum Dasein in Jndividal-
geistern erweckte." Und was sind objektive geistige, objektive sittliche Werte?
Es giebt keine objektiven Werte außerhalb des bewußten Geistes; was in keinem
wizigen bewußten Geiste, also in keinem Einzelgeiste vorhanden ist. das ist
gar nicht oder so gut wie gar uicht vorhanden und daher auch nichts wert.
Und woran messen wir die verschiednen Werte? An dem Nutzen oder Genuß,
den sie irgend welchen Einzelwesen gewähren, bestünde dieser Genuß auch nur
der ästhetischen Befriedigung des sie Betrachtenden, die darum, weil sie der
Mühle Genuß ist, noch lauge nicht der schlechteste ist. Die objektiven Werte
serfüeßen überall in Redensarten und in nichts, ausgenommen im christlichen


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[0091] Zwei philosophische Systeme stellungsform betrachtet werden dürfen, in der der Mensch die Idee des un¬ vergänglichen Wertes der sittlichen Güter seinem Gemüte nahe bringt. Diese Idee schließt aber die Überzeugung von der UnVergänglichkeit des Geistes in dem Sinne in sich, daß. weil der Geist selbst nur als unablässiges Werden und Schaffen zu denken ist, jede geistige Kraft ihren unvergänglichen Wert in dem Werdeprozeß des Geistes behauptet----Die Philosophie kann nur diesen nllgemeingiltigen Gehalt der Unsterblichkeitsidce darthun, indem sie zugleich jede hedvmstische Begründung zurückweist und darauf dringt, daß der objektive Wert der geistigen Güter, der die Unvergänglichkeit derselben zu einer prak¬ tischen Forderung macht, als der einzige Rechtsgrund sür die Annahme einer Unzerstörbarkeit der geistigen Entwicklung gelte. So endet die philosophische Betrachtung der Religion bei dem nämlichen Begriff des objektiven geistigen Wertes, bei dem die Untersuchung des sittlichen Lebens angelangt war. Diese hatte gezeigt, daß die geistigen Güter um ihrer selbst, uicht um der sie be¬ gleitenden Glücksgefühle willen erstrebt und geschätzt werden sollen. Die reli¬ giöse Betrachtung erhebt dies für die empirische Beurteilung sittlicher Hand¬ lungen giltige Prinzip zu der Forderung, daß alle geistigen Schöpfungen einen absoluten, unzerstörbaren Wert besitzen." Auf diesen letzten Satz, der in der Ethik in etwas andrer Form vorkommt (Zweckobjekt der geistigen Schöpfungen sei nicht der einzelne Geist, sondern der „allgemeine Geist der Menschheit"), ist W der Rezension dieses Werkes (Grenzboten 1892, Bd. 4, S. 109) geant¬ wortet worden: „Wir bestreikn entschieden, daß sich Wundt selbst oder irgend jemand in der Welt unter dem allgemeinen Geist der Menschheit etwas zu denken vermöge. Eine geistige Schöpfung mag so groß und erhaben sein, wie sie will, sie bleibt nicht allein die Schöpfung einer Anzahl von Einzelgeistern, sondern ihr ganzer Wert, ja ihre Existenz steht und fällt mit den Einzel¬ geistern, die sie begreifen und benutzen oder genießen. Denken wir uns, daß alle Exemplare der Bibel, oder von Goethes Faust, oder vom Lorxus ^uris, "der von unserm Unfallversichcrungsgesetz in einem verschütteten Keller lägen und niemand mehr etwas von ihnen wüßte, so wären diese geistigen Schöpfungen einfach nicht mehr vorhanden oder nur noch potentiell vorhanden, bis vielleicht ein Zufall sie wieder zum aktuellen Dasein, d. h. zum Dasein in Jndividal- geistern erweckte." Und was sind objektive geistige, objektive sittliche Werte? Es giebt keine objektiven Werte außerhalb des bewußten Geistes; was in keinem wizigen bewußten Geiste, also in keinem Einzelgeiste vorhanden ist. das ist gar nicht oder so gut wie gar uicht vorhanden und daher auch nichts wert. Und woran messen wir die verschiednen Werte? An dem Nutzen oder Genuß, den sie irgend welchen Einzelwesen gewähren, bestünde dieser Genuß auch nur der ästhetischen Befriedigung des sie Betrachtenden, die darum, weil sie der Mühle Genuß ist, noch lauge nicht der schlechteste ist. Die objektiven Werte serfüeßen überall in Redensarten und in nichts, ausgenommen im christlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/91>, abgerufen am 22.07.2024.