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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Kornpreise und Industrie
L. von der Brügger von

us Rußland kommen Nachrichten über eine schlechte Ernte: die
Kornkammern des Ostens und des Südens sind durch Nässe im
vergangnen Herbst und durch Dürre im heurigen Sommer vor
eine Ernte gestellt worden, die voraussehen läßt, daß von Ru߬
land her vorläufig nur auf eine geringe Einfuhr von Brotfrucht in
die westlichen Länder gerechnet werden darf. Die Donauländer melden gleich¬
falls eine schlechte Ernte. Ungarns Aussichten sind ähnlich. Auch Frankreich
erwartet nur eine spärliche Ernte, besonders in Weizen. Die Weizenpreise
steigen infolgedessen von Tag zu Tage, zunächst in Amerika, dem Lande, woher
man auf Einfuhr rechnet, und in Frankreich, dem Lande, das vor andern der
Einfuhr bedarf. Wir haben vielleicht eine Teuerung vor uns gerade in dem
Augenblick, wo unsre deutsche Agrarpolitik so verfahren ist wie nie zuvor. Das
ist eine Lage, die zu einer Umschau auf dem wirtschaftlichen Gebiet auffordert.

Wir sind seit 1370 mit schnellen Schritten vom Agrarftaat zum In¬
dustriestaat übergegangen. Die letzte Zählung hat ergeben, daß der acker¬
bauende Teil unsrer Bevölkerung unter die Hälfte der Volkszahl herabgesunken
ist. Wir können ohne wachsenden industriellen Export nicht mehr leben, und
ebenso wenig ohne wachsenden Brotimport. Wir brauchen eine jährliche Zu¬
fuhr an Brotfrucht für mindestens dreihundertfünfzig Millionen Mark. Dieses
Bedürfnis wächst stetig, denn die Volkszahl wächst, und die Koruerzcugung
wächst nicht in entsprechendem Maße. Der staatlich durch Prämien angestachelte
Zuckerexport erweitert den Rübenacker und verengt den Kornäcker. Sechs
Jahre niedergehender Kornpreise haben den Körncrbau so heruntergebracht, daß
er nur noch unter besonders günstigen Bedingungen lohnt und immer mehr


Grenzboten IV 1897 1


Kornpreise und Industrie
L. von der Brügger von

us Rußland kommen Nachrichten über eine schlechte Ernte: die
Kornkammern des Ostens und des Südens sind durch Nässe im
vergangnen Herbst und durch Dürre im heurigen Sommer vor
eine Ernte gestellt worden, die voraussehen läßt, daß von Ru߬
land her vorläufig nur auf eine geringe Einfuhr von Brotfrucht in
die westlichen Länder gerechnet werden darf. Die Donauländer melden gleich¬
falls eine schlechte Ernte. Ungarns Aussichten sind ähnlich. Auch Frankreich
erwartet nur eine spärliche Ernte, besonders in Weizen. Die Weizenpreise
steigen infolgedessen von Tag zu Tage, zunächst in Amerika, dem Lande, woher
man auf Einfuhr rechnet, und in Frankreich, dem Lande, das vor andern der
Einfuhr bedarf. Wir haben vielleicht eine Teuerung vor uns gerade in dem
Augenblick, wo unsre deutsche Agrarpolitik so verfahren ist wie nie zuvor. Das
ist eine Lage, die zu einer Umschau auf dem wirtschaftlichen Gebiet auffordert.

Wir sind seit 1370 mit schnellen Schritten vom Agrarftaat zum In¬
dustriestaat übergegangen. Die letzte Zählung hat ergeben, daß der acker¬
bauende Teil unsrer Bevölkerung unter die Hälfte der Volkszahl herabgesunken
ist. Wir können ohne wachsenden industriellen Export nicht mehr leben, und
ebenso wenig ohne wachsenden Brotimport. Wir brauchen eine jährliche Zu¬
fuhr an Brotfrucht für mindestens dreihundertfünfzig Millionen Mark. Dieses
Bedürfnis wächst stetig, denn die Volkszahl wächst, und die Koruerzcugung
wächst nicht in entsprechendem Maße. Der staatlich durch Prämien angestachelte
Zuckerexport erweitert den Rübenacker und verengt den Kornäcker. Sechs
Jahre niedergehender Kornpreise haben den Körncrbau so heruntergebracht, daß
er nur noch unter besonders günstigen Bedingungen lohnt und immer mehr


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[0009] [Abbildung] Kornpreise und Industrie L. von der Brügger von us Rußland kommen Nachrichten über eine schlechte Ernte: die Kornkammern des Ostens und des Südens sind durch Nässe im vergangnen Herbst und durch Dürre im heurigen Sommer vor eine Ernte gestellt worden, die voraussehen läßt, daß von Ru߬ land her vorläufig nur auf eine geringe Einfuhr von Brotfrucht in die westlichen Länder gerechnet werden darf. Die Donauländer melden gleich¬ falls eine schlechte Ernte. Ungarns Aussichten sind ähnlich. Auch Frankreich erwartet nur eine spärliche Ernte, besonders in Weizen. Die Weizenpreise steigen infolgedessen von Tag zu Tage, zunächst in Amerika, dem Lande, woher man auf Einfuhr rechnet, und in Frankreich, dem Lande, das vor andern der Einfuhr bedarf. Wir haben vielleicht eine Teuerung vor uns gerade in dem Augenblick, wo unsre deutsche Agrarpolitik so verfahren ist wie nie zuvor. Das ist eine Lage, die zu einer Umschau auf dem wirtschaftlichen Gebiet auffordert. Wir sind seit 1370 mit schnellen Schritten vom Agrarftaat zum In¬ dustriestaat übergegangen. Die letzte Zählung hat ergeben, daß der acker¬ bauende Teil unsrer Bevölkerung unter die Hälfte der Volkszahl herabgesunken ist. Wir können ohne wachsenden industriellen Export nicht mehr leben, und ebenso wenig ohne wachsenden Brotimport. Wir brauchen eine jährliche Zu¬ fuhr an Brotfrucht für mindestens dreihundertfünfzig Millionen Mark. Dieses Bedürfnis wächst stetig, denn die Volkszahl wächst, und die Koruerzcugung wächst nicht in entsprechendem Maße. Der staatlich durch Prämien angestachelte Zuckerexport erweitert den Rübenacker und verengt den Kornäcker. Sechs Jahre niedergehender Kornpreise haben den Körncrbau so heruntergebracht, daß er nur noch unter besonders günstigen Bedingungen lohnt und immer mehr Grenzboten IV 1897 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/9>, abgerufen am 26.06.2024.