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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Zwei philosophische Systeme

mitzuteilen, was dadurch geschieht, daß eine Welt bewußter Geschöpfe ins
Dasein gerufen wird, die Wohlwollen und Liebe wechselseitig spenden und
empfangen, Gerechtigkeit üben und sich am Schönen erfreuen. Der Gestalteu-
nnd Liebesreichtum Gottes, wie ihn Michel Angelo in dem mit einem Mantel
voll schöner Knaben an den erwachenden Adam heranrauschenden Schöpfer
darstellt, das ist der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist. Wie es nun
kommt, daß die Welt trotzdem voll Elend, Jammer und Pessimismus ist, und
ob man zur Erklärung dieser befremdlichen Thatsache des christlichen Teufels,
d. h. des Teufels der christlichen Theologie bedarf, das kann hier nicht erörtert
werden. Und etwas andres braucht nicht erörtert zu werden, nämlich wie ein
bewußter Gott ohne Welt zu denken sei, ein Bewußtsein, das sich selbst erzeugt
und begrenzt, während uns unsre Erfahrung uur solche Bewußtsein kennen lehrt,
die durch den Zusammenstoß mit einer sie begrenzenden Außenwelt ins Dasein
gerufen werden. Sagt doch Hartmann selbst, daß es im Jenseits nichts zu er¬
klären giebt, daß, weil alle Schlußketten an einer bestimmten Stelle der
Tapetenwand der Erscheinungen zusammenlaufen, wir annehmen müssen, da¬
hinter sitze der Werkmeister und Lenker des Marionettenspiels, daß wir zwar
aus diesen Schlußketten die Kräfte ableiten können, die in dem Urheber alles
Daseins vorhanden sein müssen, daß wir aber nicht wissen, wie wir uns diese
Kräfte an ihrem Ursprungsorte zu denken haben. Was aber die Vorstellbarkeit
anbetrifft -- ist etwa die reine Potenz des Denkens und Wollens, die weder
denkt noch will, auch nur im mindesten vorstellbar? Und können wir uns
etwa vorstellen, wie sich diese kopf- und hirnlose, torper- und geistlose Potenz
auf einmal zum Wollen entschließt? und wie hierdurch aus der einen Potenz,
die sich durch nichts als die darin schlummernden Möglichkeiten vom reinen
Nichts unterscheidet, plötzlich die Welt hervorspringt? Den bewußten Schöpfer
können wir uns doch wenigstens als einen Vater oder König vorstellen. Wir
wissen recht gut, daß ein solcher Anthropomorphismus kindlich und kindisch
und ein falsches Bild ist, aber wir wissen zugleich, daß das Bild nicht in allen
seinen Zügen falsch ist.

Die Vergeblichkeit aller Versuche Hartmanns, seinem Pessimismus
eme Grundlage für die Moral abzugewinnen, haben die Grenzboten schon
öfter nachgewiesen. Im vorliegenden Buche werden diese Versuche wieder¬
hat. "Die bewußte Fiualität ist die Grundlage aller Wertbemessung."
falsch! El,^ Schandthat nenne ich eine Schandthat, selbst wenn sie nicht
allein mir, sondern auch dem Vaterlande, der Kirche, meinem Volke Nutzen
bürgt; ich billige weder den Meuchelmord der Jack noch den der Judith.
"Eine Allgemeingiltigkeit und Verbindlichkeit der Pflicht oder der sittlichen
Forderungen ist unmöglich, solange die angeblich sittlichen Zwecke bloß subjektiv
gesetzte ^so!j sind, da jede Subjektivität sich andre Zwecke nach ihrem Belieben
letzen kann, und keine das Recht hat, der andern die ihrigen aufzudrängen."


Zwei philosophische Systeme

mitzuteilen, was dadurch geschieht, daß eine Welt bewußter Geschöpfe ins
Dasein gerufen wird, die Wohlwollen und Liebe wechselseitig spenden und
empfangen, Gerechtigkeit üben und sich am Schönen erfreuen. Der Gestalteu-
nnd Liebesreichtum Gottes, wie ihn Michel Angelo in dem mit einem Mantel
voll schöner Knaben an den erwachenden Adam heranrauschenden Schöpfer
darstellt, das ist der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist. Wie es nun
kommt, daß die Welt trotzdem voll Elend, Jammer und Pessimismus ist, und
ob man zur Erklärung dieser befremdlichen Thatsache des christlichen Teufels,
d. h. des Teufels der christlichen Theologie bedarf, das kann hier nicht erörtert
werden. Und etwas andres braucht nicht erörtert zu werden, nämlich wie ein
bewußter Gott ohne Welt zu denken sei, ein Bewußtsein, das sich selbst erzeugt
und begrenzt, während uns unsre Erfahrung uur solche Bewußtsein kennen lehrt,
die durch den Zusammenstoß mit einer sie begrenzenden Außenwelt ins Dasein
gerufen werden. Sagt doch Hartmann selbst, daß es im Jenseits nichts zu er¬
klären giebt, daß, weil alle Schlußketten an einer bestimmten Stelle der
Tapetenwand der Erscheinungen zusammenlaufen, wir annehmen müssen, da¬
hinter sitze der Werkmeister und Lenker des Marionettenspiels, daß wir zwar
aus diesen Schlußketten die Kräfte ableiten können, die in dem Urheber alles
Daseins vorhanden sein müssen, daß wir aber nicht wissen, wie wir uns diese
Kräfte an ihrem Ursprungsorte zu denken haben. Was aber die Vorstellbarkeit
anbetrifft — ist etwa die reine Potenz des Denkens und Wollens, die weder
denkt noch will, auch nur im mindesten vorstellbar? Und können wir uns
etwa vorstellen, wie sich diese kopf- und hirnlose, torper- und geistlose Potenz
auf einmal zum Wollen entschließt? und wie hierdurch aus der einen Potenz,
die sich durch nichts als die darin schlummernden Möglichkeiten vom reinen
Nichts unterscheidet, plötzlich die Welt hervorspringt? Den bewußten Schöpfer
können wir uns doch wenigstens als einen Vater oder König vorstellen. Wir
wissen recht gut, daß ein solcher Anthropomorphismus kindlich und kindisch
und ein falsches Bild ist, aber wir wissen zugleich, daß das Bild nicht in allen
seinen Zügen falsch ist.

Die Vergeblichkeit aller Versuche Hartmanns, seinem Pessimismus
eme Grundlage für die Moral abzugewinnen, haben die Grenzboten schon
öfter nachgewiesen. Im vorliegenden Buche werden diese Versuche wieder¬
hat. „Die bewußte Fiualität ist die Grundlage aller Wertbemessung."
falsch! El,^ Schandthat nenne ich eine Schandthat, selbst wenn sie nicht
allein mir, sondern auch dem Vaterlande, der Kirche, meinem Volke Nutzen
bürgt; ich billige weder den Meuchelmord der Jack noch den der Judith.
"Eine Allgemeingiltigkeit und Verbindlichkeit der Pflicht oder der sittlichen
Forderungen ist unmöglich, solange die angeblich sittlichen Zwecke bloß subjektiv
gesetzte ^so!j sind, da jede Subjektivität sich andre Zwecke nach ihrem Belieben
letzen kann, und keine das Recht hat, der andern die ihrigen aufzudrängen."


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[0083] Zwei philosophische Systeme mitzuteilen, was dadurch geschieht, daß eine Welt bewußter Geschöpfe ins Dasein gerufen wird, die Wohlwollen und Liebe wechselseitig spenden und empfangen, Gerechtigkeit üben und sich am Schönen erfreuen. Der Gestalteu- nnd Liebesreichtum Gottes, wie ihn Michel Angelo in dem mit einem Mantel voll schöner Knaben an den erwachenden Adam heranrauschenden Schöpfer darstellt, das ist der Stoff, aus dem die Welt gemacht ist. Wie es nun kommt, daß die Welt trotzdem voll Elend, Jammer und Pessimismus ist, und ob man zur Erklärung dieser befremdlichen Thatsache des christlichen Teufels, d. h. des Teufels der christlichen Theologie bedarf, das kann hier nicht erörtert werden. Und etwas andres braucht nicht erörtert zu werden, nämlich wie ein bewußter Gott ohne Welt zu denken sei, ein Bewußtsein, das sich selbst erzeugt und begrenzt, während uns unsre Erfahrung uur solche Bewußtsein kennen lehrt, die durch den Zusammenstoß mit einer sie begrenzenden Außenwelt ins Dasein gerufen werden. Sagt doch Hartmann selbst, daß es im Jenseits nichts zu er¬ klären giebt, daß, weil alle Schlußketten an einer bestimmten Stelle der Tapetenwand der Erscheinungen zusammenlaufen, wir annehmen müssen, da¬ hinter sitze der Werkmeister und Lenker des Marionettenspiels, daß wir zwar aus diesen Schlußketten die Kräfte ableiten können, die in dem Urheber alles Daseins vorhanden sein müssen, daß wir aber nicht wissen, wie wir uns diese Kräfte an ihrem Ursprungsorte zu denken haben. Was aber die Vorstellbarkeit anbetrifft — ist etwa die reine Potenz des Denkens und Wollens, die weder denkt noch will, auch nur im mindesten vorstellbar? Und können wir uns etwa vorstellen, wie sich diese kopf- und hirnlose, torper- und geistlose Potenz auf einmal zum Wollen entschließt? und wie hierdurch aus der einen Potenz, die sich durch nichts als die darin schlummernden Möglichkeiten vom reinen Nichts unterscheidet, plötzlich die Welt hervorspringt? Den bewußten Schöpfer können wir uns doch wenigstens als einen Vater oder König vorstellen. Wir wissen recht gut, daß ein solcher Anthropomorphismus kindlich und kindisch und ein falsches Bild ist, aber wir wissen zugleich, daß das Bild nicht in allen seinen Zügen falsch ist. Die Vergeblichkeit aller Versuche Hartmanns, seinem Pessimismus eme Grundlage für die Moral abzugewinnen, haben die Grenzboten schon öfter nachgewiesen. Im vorliegenden Buche werden diese Versuche wieder¬ hat. „Die bewußte Fiualität ist die Grundlage aller Wertbemessung." falsch! El,^ Schandthat nenne ich eine Schandthat, selbst wenn sie nicht allein mir, sondern auch dem Vaterlande, der Kirche, meinem Volke Nutzen bürgt; ich billige weder den Meuchelmord der Jack noch den der Judith. "Eine Allgemeingiltigkeit und Verbindlichkeit der Pflicht oder der sittlichen Forderungen ist unmöglich, solange die angeblich sittlichen Zwecke bloß subjektiv gesetzte ^so!j sind, da jede Subjektivität sich andre Zwecke nach ihrem Belieben letzen kann, und keine das Recht hat, der andern die ihrigen aufzudrängen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/83>, abgerufen am 23.07.2024.