Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.Auswärtige Politik der einen und der wilden Begehrlichkeit der andern erkennen sie den ver¬ Gegenüber den einzelnen Fragen des Tages ergiebt sich aus den beider¬ Auswärtige Politik der einen und der wilden Begehrlichkeit der andern erkennen sie den ver¬ Gegenüber den einzelnen Fragen des Tages ergiebt sich aus den beider¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226306"/> <fw type="header" place="top"> Auswärtige Politik</fw><lb/> <p xml:id="ID_177" prev="#ID_176"> der einen und der wilden Begehrlichkeit der andern erkennen sie den ver¬<lb/> worrenen Zustand einer Gesellschaft, deren führende Kreise nicht frei von<lb/> Fäulnis, und deren untere Schichten durch umwälzende Vorgänge des geistigen<lb/> wie des materiellen Lebens aufgestört sind. Sie trauen aber dem deutschen<lb/> Volk trotz mancher Schwächen noch Lebensfähigkeit und Kraft genug zu, ab¬<lb/> sterbende Bestandteile auszuscheiden, die flüssigen Massen aber zu neuen Bil¬<lb/> dungen zu formen und sie in seinen Gliederbau aufzunehmen, ohne zu zer¬<lb/> bersten. Was nach ihrer Ansicht zur Unterstützung des deutschen Volkes bei<lb/> diesem Aufsauguugswerk geschehen kann, beschränkt sich auf die Förderung<lb/> seiner Lebenskraft. Alles, was ihr zugewendet wird, drängt die Krankheit des<lb/> Volkskörpers zurück; alle unmittelbare!? Heilversuche sind unwirksam.</p><lb/> <p xml:id="ID_178"> Gegenüber den einzelnen Fragen des Tages ergiebt sich aus den beider¬<lb/> seitige» Standpunkten für die erste Gruppe ein sehr viel einfacheres Verhalten<lb/> als für die zweite. Die erste kann sich von Reformen und ähnlichen Ma߬<lb/> regeln keinen andern Erfolg versprechen als zwecklosen Aufschub und vermehrte<lb/> Verwirrung der Geister. Ihr einziges Heilmittel besteht darin, das Pulver<lb/> trocken zu halten. Die zweite muß bei vollster Einsicht in den Ernst der Lage<lb/> unausgesetzt an dem zeitgemüßeu Ausbau der vorhandnen Einrichtungen<lb/> arbeiten, für neue Bedürfnisse neue Vorkehrungen treffen und vor allem für<lb/> die Ausbreitung einer kräftigen vaterländischen Gesinnung wirken. In dieser<lb/> Richtung bewegen sich auch die Wünsche, denen die vorstehenden Zeilen Aus¬<lb/> druck geben. Wohl begegnet heutzutage jeder Vorschlag, der die Bedeutung<lb/> der Parlamente heben will, in weiten Kreisen lebhaftem Widerspruch. Mögen<lb/> sie doch abwirtschaften! heißt es; je gründlicher, desto besser! Wenn aber die<lb/> Parlamente wieder abgeschafft sind, wird damit auch der Anspruch einer<lb/> gebildeten Nation auf Rechenschaft über die Verwaltung ihrer Angelegenheiten<lb/> aus der Welt geschafft sein? Wer diese Frage nicht zu bejahen wagt, dem ist<lb/> zu raten, daß er lieber auf Besserung sinne als auf Abschaffung. Der Bauer,<lb/> der sein undichtes Haus in Brand steckte, beseitigte die schadhaften Stellen<lb/> freilich schneller und müheloser als sein Nachbar, der sein Haus ausbesserte.<lb/> Aber der tingere von beiden war doch der Nachbar.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0074]
Auswärtige Politik
der einen und der wilden Begehrlichkeit der andern erkennen sie den ver¬
worrenen Zustand einer Gesellschaft, deren führende Kreise nicht frei von
Fäulnis, und deren untere Schichten durch umwälzende Vorgänge des geistigen
wie des materiellen Lebens aufgestört sind. Sie trauen aber dem deutschen
Volk trotz mancher Schwächen noch Lebensfähigkeit und Kraft genug zu, ab¬
sterbende Bestandteile auszuscheiden, die flüssigen Massen aber zu neuen Bil¬
dungen zu formen und sie in seinen Gliederbau aufzunehmen, ohne zu zer¬
bersten. Was nach ihrer Ansicht zur Unterstützung des deutschen Volkes bei
diesem Aufsauguugswerk geschehen kann, beschränkt sich auf die Förderung
seiner Lebenskraft. Alles, was ihr zugewendet wird, drängt die Krankheit des
Volkskörpers zurück; alle unmittelbare!? Heilversuche sind unwirksam.
Gegenüber den einzelnen Fragen des Tages ergiebt sich aus den beider¬
seitige» Standpunkten für die erste Gruppe ein sehr viel einfacheres Verhalten
als für die zweite. Die erste kann sich von Reformen und ähnlichen Ma߬
regeln keinen andern Erfolg versprechen als zwecklosen Aufschub und vermehrte
Verwirrung der Geister. Ihr einziges Heilmittel besteht darin, das Pulver
trocken zu halten. Die zweite muß bei vollster Einsicht in den Ernst der Lage
unausgesetzt an dem zeitgemüßeu Ausbau der vorhandnen Einrichtungen
arbeiten, für neue Bedürfnisse neue Vorkehrungen treffen und vor allem für
die Ausbreitung einer kräftigen vaterländischen Gesinnung wirken. In dieser
Richtung bewegen sich auch die Wünsche, denen die vorstehenden Zeilen Aus¬
druck geben. Wohl begegnet heutzutage jeder Vorschlag, der die Bedeutung
der Parlamente heben will, in weiten Kreisen lebhaftem Widerspruch. Mögen
sie doch abwirtschaften! heißt es; je gründlicher, desto besser! Wenn aber die
Parlamente wieder abgeschafft sind, wird damit auch der Anspruch einer
gebildeten Nation auf Rechenschaft über die Verwaltung ihrer Angelegenheiten
aus der Welt geschafft sein? Wer diese Frage nicht zu bejahen wagt, dem ist
zu raten, daß er lieber auf Besserung sinne als auf Abschaffung. Der Bauer,
der sein undichtes Haus in Brand steckte, beseitigte die schadhaften Stellen
freilich schneller und müheloser als sein Nachbar, der sein Haus ausbesserte.
Aber der tingere von beiden war doch der Nachbar.
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