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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Auswärtige Politik

krcitisch bezeichnet wird, oder warum wir als Volk mit den Franzosen als
Volk zu keinem freundschaftlichen Einvernehmen gelangen, wer infolgedessen
Ultrcimvntanen und Liberalen, Deutschen und Franzosen mit den gleichen
Empfindungen oder richtiger mit dem gleichen Mangel an Empfindung
gegenübersteht, ein solcher Mann wird uns niemals als ein vollwertiger
Bürger des deutschen Reiches gelten. Und ebenso umgekehrt. Wer sich im
Banne seiner politischen Überzeugungen aller konkreten Anschauung so entwöhnt
hat, daß er in jedem Franzosen oder in jedem Landsmann entgegengesetzter
Parteistelluug ohne weiteres einen persönlichen Feind sieht, wer es nicht über
sich gewinnt, gute Eigenschaften auch an dem politischen Gegner anzuerkennen,
einem solchen Fanatiker sprechen wir mit demselben Recht die geistige Gesund¬
heit ab wie seinein Gegenstück, dem Mann ohne jede politische Ansicht.

Beide Verkehrtheiten finden sich aber nicht nur bei den einzelnen Menschen,
sondern auch bei großen Parteien, ja zuweilen wohl gar bei einem ganzen
Volke, immer aber als untrügliches Kennzeichen eines krankhaften Zustandes.
In der Siedehitze des Ncvolutionsfiebers verschwanden vor dem geistigen
Auge der Franzosen die trennenden Schranken der Landesgrenzen. Sie sahen
die europäischen Staaten nur noch von Tyrannen und unterdrückten Brüdern
bevölkert; erst eine lange Reihe von blutigen Zusammenstößen konnte sie eines
bessern belehren. Demselben Fehler verfielen unter dem Einfluß entgegen¬
gesetzter Anschauungen die heilige Allianz unter Metternichs Führung und
später die Kreuzzeitungspartei in Preußen, als sie in den vierziger und fünf¬
ziger Jahren das Schlagwort von der Solidarität der konservativen Interessen
in Europa erfand, das ihr abtrünniges Mitglied Bismarck zuerst mit beißenden
Worten und bald genug auch mit geschichtlichen Thaten "Ä adsuräum führte.
Die neueste Erscheinungsform dieser internationalen Wahnvorstellung erleben
wir in der Gegenwart an der sozialistischen Arbeiterpartei, auf deren Fahnen
der Wahlspruch steht: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Alle derartigen Utopien entstehen durch ein Überwuchern politischer oder
wirtschaftlicher Abstraktionen über die konkrete Anschauung. Sie verkennen
sämtlich die Wirklichkeit des Nativnalitätsbegriffs. Deshalb ist ihr Mi߬
erfolg unausbleiblich. Die kriegerische Propaganda der ersten französischen
Republik endigte damit, daß die Bewegung in die frühern Grenzen des
Landes zurückgeworfen und die entthronten Bourbonen wieder eingesetzt
wurden. Metternichs einseitige, unverwandt nach innen gerichtete Politik
erzeugte durch ihren Druck die Dämpfe, die 1848 in allen mitteleuropäischen
Ländern den Kessel der alten Staatsform sprengten. Sie führte also selbst
die Veränderung herbei, deren Abwendung ihr einziges Ziel gewesen war.
Und doch hätte Österreich mit demselben Aufwand an Zeit und Mühe,
den es an die Kongresse von Laibach und Verona und an die Karlsbader
Beschlüsse verschwendete, halb Afrika erwerben können. Auch die preußische


Auswärtige Politik

krcitisch bezeichnet wird, oder warum wir als Volk mit den Franzosen als
Volk zu keinem freundschaftlichen Einvernehmen gelangen, wer infolgedessen
Ultrcimvntanen und Liberalen, Deutschen und Franzosen mit den gleichen
Empfindungen oder richtiger mit dem gleichen Mangel an Empfindung
gegenübersteht, ein solcher Mann wird uns niemals als ein vollwertiger
Bürger des deutschen Reiches gelten. Und ebenso umgekehrt. Wer sich im
Banne seiner politischen Überzeugungen aller konkreten Anschauung so entwöhnt
hat, daß er in jedem Franzosen oder in jedem Landsmann entgegengesetzter
Parteistelluug ohne weiteres einen persönlichen Feind sieht, wer es nicht über
sich gewinnt, gute Eigenschaften auch an dem politischen Gegner anzuerkennen,
einem solchen Fanatiker sprechen wir mit demselben Recht die geistige Gesund¬
heit ab wie seinein Gegenstück, dem Mann ohne jede politische Ansicht.

Beide Verkehrtheiten finden sich aber nicht nur bei den einzelnen Menschen,
sondern auch bei großen Parteien, ja zuweilen wohl gar bei einem ganzen
Volke, immer aber als untrügliches Kennzeichen eines krankhaften Zustandes.
In der Siedehitze des Ncvolutionsfiebers verschwanden vor dem geistigen
Auge der Franzosen die trennenden Schranken der Landesgrenzen. Sie sahen
die europäischen Staaten nur noch von Tyrannen und unterdrückten Brüdern
bevölkert; erst eine lange Reihe von blutigen Zusammenstößen konnte sie eines
bessern belehren. Demselben Fehler verfielen unter dem Einfluß entgegen¬
gesetzter Anschauungen die heilige Allianz unter Metternichs Führung und
später die Kreuzzeitungspartei in Preußen, als sie in den vierziger und fünf¬
ziger Jahren das Schlagwort von der Solidarität der konservativen Interessen
in Europa erfand, das ihr abtrünniges Mitglied Bismarck zuerst mit beißenden
Worten und bald genug auch mit geschichtlichen Thaten »Ä adsuräum führte.
Die neueste Erscheinungsform dieser internationalen Wahnvorstellung erleben
wir in der Gegenwart an der sozialistischen Arbeiterpartei, auf deren Fahnen
der Wahlspruch steht: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Alle derartigen Utopien entstehen durch ein Überwuchern politischer oder
wirtschaftlicher Abstraktionen über die konkrete Anschauung. Sie verkennen
sämtlich die Wirklichkeit des Nativnalitätsbegriffs. Deshalb ist ihr Mi߬
erfolg unausbleiblich. Die kriegerische Propaganda der ersten französischen
Republik endigte damit, daß die Bewegung in die frühern Grenzen des
Landes zurückgeworfen und die entthronten Bourbonen wieder eingesetzt
wurden. Metternichs einseitige, unverwandt nach innen gerichtete Politik
erzeugte durch ihren Druck die Dämpfe, die 1848 in allen mitteleuropäischen
Ländern den Kessel der alten Staatsform sprengten. Sie führte also selbst
die Veränderung herbei, deren Abwendung ihr einziges Ziel gewesen war.
Und doch hätte Österreich mit demselben Aufwand an Zeit und Mühe,
den es an die Kongresse von Laibach und Verona und an die Karlsbader
Beschlüsse verschwendete, halb Afrika erwerben können. Auch die preußische


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[0066] Auswärtige Politik krcitisch bezeichnet wird, oder warum wir als Volk mit den Franzosen als Volk zu keinem freundschaftlichen Einvernehmen gelangen, wer infolgedessen Ultrcimvntanen und Liberalen, Deutschen und Franzosen mit den gleichen Empfindungen oder richtiger mit dem gleichen Mangel an Empfindung gegenübersteht, ein solcher Mann wird uns niemals als ein vollwertiger Bürger des deutschen Reiches gelten. Und ebenso umgekehrt. Wer sich im Banne seiner politischen Überzeugungen aller konkreten Anschauung so entwöhnt hat, daß er in jedem Franzosen oder in jedem Landsmann entgegengesetzter Parteistelluug ohne weiteres einen persönlichen Feind sieht, wer es nicht über sich gewinnt, gute Eigenschaften auch an dem politischen Gegner anzuerkennen, einem solchen Fanatiker sprechen wir mit demselben Recht die geistige Gesund¬ heit ab wie seinein Gegenstück, dem Mann ohne jede politische Ansicht. Beide Verkehrtheiten finden sich aber nicht nur bei den einzelnen Menschen, sondern auch bei großen Parteien, ja zuweilen wohl gar bei einem ganzen Volke, immer aber als untrügliches Kennzeichen eines krankhaften Zustandes. In der Siedehitze des Ncvolutionsfiebers verschwanden vor dem geistigen Auge der Franzosen die trennenden Schranken der Landesgrenzen. Sie sahen die europäischen Staaten nur noch von Tyrannen und unterdrückten Brüdern bevölkert; erst eine lange Reihe von blutigen Zusammenstößen konnte sie eines bessern belehren. Demselben Fehler verfielen unter dem Einfluß entgegen¬ gesetzter Anschauungen die heilige Allianz unter Metternichs Führung und später die Kreuzzeitungspartei in Preußen, als sie in den vierziger und fünf¬ ziger Jahren das Schlagwort von der Solidarität der konservativen Interessen in Europa erfand, das ihr abtrünniges Mitglied Bismarck zuerst mit beißenden Worten und bald genug auch mit geschichtlichen Thaten »Ä adsuräum führte. Die neueste Erscheinungsform dieser internationalen Wahnvorstellung erleben wir in der Gegenwart an der sozialistischen Arbeiterpartei, auf deren Fahnen der Wahlspruch steht: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Alle derartigen Utopien entstehen durch ein Überwuchern politischer oder wirtschaftlicher Abstraktionen über die konkrete Anschauung. Sie verkennen sämtlich die Wirklichkeit des Nativnalitätsbegriffs. Deshalb ist ihr Mi߬ erfolg unausbleiblich. Die kriegerische Propaganda der ersten französischen Republik endigte damit, daß die Bewegung in die frühern Grenzen des Landes zurückgeworfen und die entthronten Bourbonen wieder eingesetzt wurden. Metternichs einseitige, unverwandt nach innen gerichtete Politik erzeugte durch ihren Druck die Dämpfe, die 1848 in allen mitteleuropäischen Ländern den Kessel der alten Staatsform sprengten. Sie führte also selbst die Veränderung herbei, deren Abwendung ihr einziges Ziel gewesen war. Und doch hätte Österreich mit demselben Aufwand an Zeit und Mühe, den es an die Kongresse von Laibach und Verona und an die Karlsbader Beschlüsse verschwendete, halb Afrika erwerben können. Auch die preußische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/66>, abgerufen am 22.07.2024.