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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Auswärtige Politik

le Fähigkeit zu denken unterscheidet den Menschen vom Tiere;
die Fähigkeit abstrakt zu denken unterscheidet den geschulten Ver¬
stand von dem ungeschulten. Das Kind, das Weib, der Mann
aus dem Volk und das Genie sind konkrete Denker; ganz ohne
abstrakte Gedankengänge können aber auch sie nicht sein.

Die Mischung dieser beiden Denkrichtungen ist ein notwendiger Bestand¬
teil der Zivilisation. Ein gänzlicher Mangel aller Abstraktion, also ein aus¬
schließlich konkretes Denken giebt es nur auf der Kindheitsstufe der Kultur, die,
wenn sie nicht selbst noch Barbarei ist, doch unmittelbar an sie grenzt. Und
ein schrankenloses Überwuchern der Abstraktion kennzeichnet das entgegengesetzte
Extrem einer absterbenden Kultur, die, sich ja in vielen Erscheinungen mit der
Unkultur berührt. In gesunden Zeiten werden sich konkretes und abstraktes
Denken immer in annähernden Gleichgewicht befinden und gegenseitig befruchten.

Für den einzelnen Menschen gilt ganz dasselbe. Einfältig nennen wir
den Menschen, dessen Denken mit den Eindrücken seiner Sinne so verwachsen
ist, daß es sich keinen Augenblick von ihnen loszumachen vermag. Er ist in
geistiger Beziehung ein Unfreier, wir dulden ihn, aber wir achten ihn nicht.
Auf der andern Seite betrachten wir auch den scharfsinnigsten Gelehrten als ein
verbildetes Menschenkind, wenn er über seiner einsamen Beschäftigung Gegen¬
wart und Wirklichkeit aus dem Auge verliert und sich zuletzt nicht mehr unter
seinesgleichen zu bewegen weiß.

Nicht anders steht es aber um die Gesundheit unsers politischen Denkens.
Von einem gebildeten Deutschen verlangen wir eine politische Gesinnung und
damit ein gewisses Maß geschichtlicher Kenntnisse; denn Politik ist nichts
andres als die Fortsetzung der Geschichte in der Gegenwart. Wer keinen
Begriff davon hat, was mit den Worten konservativ, liberal und demo-


Grenzbolen IV 1897 8


Auswärtige Politik

le Fähigkeit zu denken unterscheidet den Menschen vom Tiere;
die Fähigkeit abstrakt zu denken unterscheidet den geschulten Ver¬
stand von dem ungeschulten. Das Kind, das Weib, der Mann
aus dem Volk und das Genie sind konkrete Denker; ganz ohne
abstrakte Gedankengänge können aber auch sie nicht sein.

Die Mischung dieser beiden Denkrichtungen ist ein notwendiger Bestand¬
teil der Zivilisation. Ein gänzlicher Mangel aller Abstraktion, also ein aus¬
schließlich konkretes Denken giebt es nur auf der Kindheitsstufe der Kultur, die,
wenn sie nicht selbst noch Barbarei ist, doch unmittelbar an sie grenzt. Und
ein schrankenloses Überwuchern der Abstraktion kennzeichnet das entgegengesetzte
Extrem einer absterbenden Kultur, die, sich ja in vielen Erscheinungen mit der
Unkultur berührt. In gesunden Zeiten werden sich konkretes und abstraktes
Denken immer in annähernden Gleichgewicht befinden und gegenseitig befruchten.

Für den einzelnen Menschen gilt ganz dasselbe. Einfältig nennen wir
den Menschen, dessen Denken mit den Eindrücken seiner Sinne so verwachsen
ist, daß es sich keinen Augenblick von ihnen loszumachen vermag. Er ist in
geistiger Beziehung ein Unfreier, wir dulden ihn, aber wir achten ihn nicht.
Auf der andern Seite betrachten wir auch den scharfsinnigsten Gelehrten als ein
verbildetes Menschenkind, wenn er über seiner einsamen Beschäftigung Gegen¬
wart und Wirklichkeit aus dem Auge verliert und sich zuletzt nicht mehr unter
seinesgleichen zu bewegen weiß.

Nicht anders steht es aber um die Gesundheit unsers politischen Denkens.
Von einem gebildeten Deutschen verlangen wir eine politische Gesinnung und
damit ein gewisses Maß geschichtlicher Kenntnisse; denn Politik ist nichts
andres als die Fortsetzung der Geschichte in der Gegenwart. Wer keinen
Begriff davon hat, was mit den Worten konservativ, liberal und demo-


Grenzbolen IV 1897 8
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[0065] [Abbildung] Auswärtige Politik le Fähigkeit zu denken unterscheidet den Menschen vom Tiere; die Fähigkeit abstrakt zu denken unterscheidet den geschulten Ver¬ stand von dem ungeschulten. Das Kind, das Weib, der Mann aus dem Volk und das Genie sind konkrete Denker; ganz ohne abstrakte Gedankengänge können aber auch sie nicht sein. Die Mischung dieser beiden Denkrichtungen ist ein notwendiger Bestand¬ teil der Zivilisation. Ein gänzlicher Mangel aller Abstraktion, also ein aus¬ schließlich konkretes Denken giebt es nur auf der Kindheitsstufe der Kultur, die, wenn sie nicht selbst noch Barbarei ist, doch unmittelbar an sie grenzt. Und ein schrankenloses Überwuchern der Abstraktion kennzeichnet das entgegengesetzte Extrem einer absterbenden Kultur, die, sich ja in vielen Erscheinungen mit der Unkultur berührt. In gesunden Zeiten werden sich konkretes und abstraktes Denken immer in annähernden Gleichgewicht befinden und gegenseitig befruchten. Für den einzelnen Menschen gilt ganz dasselbe. Einfältig nennen wir den Menschen, dessen Denken mit den Eindrücken seiner Sinne so verwachsen ist, daß es sich keinen Augenblick von ihnen loszumachen vermag. Er ist in geistiger Beziehung ein Unfreier, wir dulden ihn, aber wir achten ihn nicht. Auf der andern Seite betrachten wir auch den scharfsinnigsten Gelehrten als ein verbildetes Menschenkind, wenn er über seiner einsamen Beschäftigung Gegen¬ wart und Wirklichkeit aus dem Auge verliert und sich zuletzt nicht mehr unter seinesgleichen zu bewegen weiß. Nicht anders steht es aber um die Gesundheit unsers politischen Denkens. Von einem gebildeten Deutschen verlangen wir eine politische Gesinnung und damit ein gewisses Maß geschichtlicher Kenntnisse; denn Politik ist nichts andres als die Fortsetzung der Geschichte in der Gegenwart. Wer keinen Begriff davon hat, was mit den Worten konservativ, liberal und demo- Grenzbolen IV 1897 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/65>, abgerufen am 22.07.2024.