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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Die Briefstatistik der deutschen Reichspost

In der Statistik sind diese Summen auf die Hunderte abgerundet, soweit
sie deu inländischen Verkehr betreffen, auf die Zehner dagegen hinsichtlich des
Briefverkehrs mit dem Auslande. Der Leser muß also zu dem Glauben
kommen, daß die Ungenauigkeiten der Statistik die Hunderte und die Zehner
nicht überschritten. Nun weiß aber jeder mit dem praktischen Dienst vertraute
Postbeamte, daß insbesondre Postkarten und Drucksachen nicht mit solcher
Gleichmäßigkeit eingeliefert werden, daß eine auf die angegebne Weise her¬
gestellte Statistik ein nur einigermaßen richtiges Bild des Briefverkehrs
geben könnte.

Die Masseneinlieferung von "Postkarten mit Ansicht" an schönen Tagen
der Reisezeit kennt jeder Postbeamte, der einmal zu dieser Zeit am Rhein, im
Harz oder an andern beliebten Touristenzielcn Bahnpostdienst gethan hat. Ist
nun das Wetter während der sieben Zähltage im August für Touristen günstig,
so werden bedeutend mehr Karten eingeliefert als im andern Falle. Demgemäß
wird das Endergebnis der Zählung nach der einen oder andern Seite natürlich
um das Sechsundzwanzigfache vergrößert abweichen. Ferner laßt die Statistik
Masseneinlieferungen von Drucksacheu ganz außer acht; daß aber solche von
20 bis 30000 Stück nicht zu den größten Seltenheiten gehören, wissen alle
an größern Industrieorten beschäftigten Beamten. Und wie steht es mit dem
Briefverkehr an Neujahrs-und Konfirmationstagen? Aus folgendem Beispiele
wird hervorgehen, in welcher Weise die Briefstatistik abgeändert werden würde,
wenn der Briefverkehr dieser beiden Tage Beachtung fände. In einer mittel¬
deutschen Stadt von 15 bis 20000 Einwohnern befördert die dort bestehende
Privatbriefbeförderungsanstalt täglich drei- bis vierhundert Briefe und Karten;
am Konfirmatioustage 1897 stieg die Zahl auf neunhundert, am Neujahrs¬
tage aber auf ziemlich achttausend. Wenn nun auch von den Privatgesell¬
schaften in etwa achtzig größern Städten des deutscheu Neichspostgebiets der
größte Teil des Ortsverkehrs erledigt wird, so giebt es doch erstens noch
viele andre Orte ohne solche Anstalten, wo der Ortsverkehr an diesen Tagen
in ähnlichem Verhältnis anschwillt, und zweitens machen die Ortssendungen
doch immer nur einen Bruchteil der an einem solchen Tage überhaupt ver¬
sandten Briefe und Karten aus.

Das find noch nicht alle Thatsachen, die gegen die Glaubwürdigkeit der
Statistik beigebracht werden können; doch werden sie genügen, die Methode der
Erhebung zu verurteilen. Ebenso unzuverlässig aber ist die Ausführung der
Zählung selbst.

Die Zählung der Briefe ist eine Zugabe zu der Arbeit des entkarteudeu
Beamten, nicht selten wird sie auch dem stempelnden Unterbeamten übertragen;
nur die größten Postanstalten stellen besondre Zählbeamte ein. Und wie wird
nun gezahlt? Auf die bequemste Weise, nämlich -- gar nicht, wenigstens bei den


Die Briefstatistik der deutschen Reichspost

In der Statistik sind diese Summen auf die Hunderte abgerundet, soweit
sie deu inländischen Verkehr betreffen, auf die Zehner dagegen hinsichtlich des
Briefverkehrs mit dem Auslande. Der Leser muß also zu dem Glauben
kommen, daß die Ungenauigkeiten der Statistik die Hunderte und die Zehner
nicht überschritten. Nun weiß aber jeder mit dem praktischen Dienst vertraute
Postbeamte, daß insbesondre Postkarten und Drucksachen nicht mit solcher
Gleichmäßigkeit eingeliefert werden, daß eine auf die angegebne Weise her¬
gestellte Statistik ein nur einigermaßen richtiges Bild des Briefverkehrs
geben könnte.

Die Masseneinlieferung von „Postkarten mit Ansicht" an schönen Tagen
der Reisezeit kennt jeder Postbeamte, der einmal zu dieser Zeit am Rhein, im
Harz oder an andern beliebten Touristenzielcn Bahnpostdienst gethan hat. Ist
nun das Wetter während der sieben Zähltage im August für Touristen günstig,
so werden bedeutend mehr Karten eingeliefert als im andern Falle. Demgemäß
wird das Endergebnis der Zählung nach der einen oder andern Seite natürlich
um das Sechsundzwanzigfache vergrößert abweichen. Ferner laßt die Statistik
Masseneinlieferungen von Drucksacheu ganz außer acht; daß aber solche von
20 bis 30000 Stück nicht zu den größten Seltenheiten gehören, wissen alle
an größern Industrieorten beschäftigten Beamten. Und wie steht es mit dem
Briefverkehr an Neujahrs-und Konfirmationstagen? Aus folgendem Beispiele
wird hervorgehen, in welcher Weise die Briefstatistik abgeändert werden würde,
wenn der Briefverkehr dieser beiden Tage Beachtung fände. In einer mittel¬
deutschen Stadt von 15 bis 20000 Einwohnern befördert die dort bestehende
Privatbriefbeförderungsanstalt täglich drei- bis vierhundert Briefe und Karten;
am Konfirmatioustage 1897 stieg die Zahl auf neunhundert, am Neujahrs¬
tage aber auf ziemlich achttausend. Wenn nun auch von den Privatgesell¬
schaften in etwa achtzig größern Städten des deutscheu Neichspostgebiets der
größte Teil des Ortsverkehrs erledigt wird, so giebt es doch erstens noch
viele andre Orte ohne solche Anstalten, wo der Ortsverkehr an diesen Tagen
in ähnlichem Verhältnis anschwillt, und zweitens machen die Ortssendungen
doch immer nur einen Bruchteil der an einem solchen Tage überhaupt ver¬
sandten Briefe und Karten aus.

Das find noch nicht alle Thatsachen, die gegen die Glaubwürdigkeit der
Statistik beigebracht werden können; doch werden sie genügen, die Methode der
Erhebung zu verurteilen. Ebenso unzuverlässig aber ist die Ausführung der
Zählung selbst.

Die Zählung der Briefe ist eine Zugabe zu der Arbeit des entkarteudeu
Beamten, nicht selten wird sie auch dem stempelnden Unterbeamten übertragen;
nur die größten Postanstalten stellen besondre Zählbeamte ein. Und wie wird
nun gezahlt? Auf die bequemste Weise, nämlich — gar nicht, wenigstens bei den


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[0620] Die Briefstatistik der deutschen Reichspost In der Statistik sind diese Summen auf die Hunderte abgerundet, soweit sie deu inländischen Verkehr betreffen, auf die Zehner dagegen hinsichtlich des Briefverkehrs mit dem Auslande. Der Leser muß also zu dem Glauben kommen, daß die Ungenauigkeiten der Statistik die Hunderte und die Zehner nicht überschritten. Nun weiß aber jeder mit dem praktischen Dienst vertraute Postbeamte, daß insbesondre Postkarten und Drucksachen nicht mit solcher Gleichmäßigkeit eingeliefert werden, daß eine auf die angegebne Weise her¬ gestellte Statistik ein nur einigermaßen richtiges Bild des Briefverkehrs geben könnte. Die Masseneinlieferung von „Postkarten mit Ansicht" an schönen Tagen der Reisezeit kennt jeder Postbeamte, der einmal zu dieser Zeit am Rhein, im Harz oder an andern beliebten Touristenzielcn Bahnpostdienst gethan hat. Ist nun das Wetter während der sieben Zähltage im August für Touristen günstig, so werden bedeutend mehr Karten eingeliefert als im andern Falle. Demgemäß wird das Endergebnis der Zählung nach der einen oder andern Seite natürlich um das Sechsundzwanzigfache vergrößert abweichen. Ferner laßt die Statistik Masseneinlieferungen von Drucksacheu ganz außer acht; daß aber solche von 20 bis 30000 Stück nicht zu den größten Seltenheiten gehören, wissen alle an größern Industrieorten beschäftigten Beamten. Und wie steht es mit dem Briefverkehr an Neujahrs-und Konfirmationstagen? Aus folgendem Beispiele wird hervorgehen, in welcher Weise die Briefstatistik abgeändert werden würde, wenn der Briefverkehr dieser beiden Tage Beachtung fände. In einer mittel¬ deutschen Stadt von 15 bis 20000 Einwohnern befördert die dort bestehende Privatbriefbeförderungsanstalt täglich drei- bis vierhundert Briefe und Karten; am Konfirmatioustage 1897 stieg die Zahl auf neunhundert, am Neujahrs¬ tage aber auf ziemlich achttausend. Wenn nun auch von den Privatgesell¬ schaften in etwa achtzig größern Städten des deutscheu Neichspostgebiets der größte Teil des Ortsverkehrs erledigt wird, so giebt es doch erstens noch viele andre Orte ohne solche Anstalten, wo der Ortsverkehr an diesen Tagen in ähnlichem Verhältnis anschwillt, und zweitens machen die Ortssendungen doch immer nur einen Bruchteil der an einem solchen Tage überhaupt ver¬ sandten Briefe und Karten aus. Das find noch nicht alle Thatsachen, die gegen die Glaubwürdigkeit der Statistik beigebracht werden können; doch werden sie genügen, die Methode der Erhebung zu verurteilen. Ebenso unzuverlässig aber ist die Ausführung der Zählung selbst. Die Zählung der Briefe ist eine Zugabe zu der Arbeit des entkarteudeu Beamten, nicht selten wird sie auch dem stempelnden Unterbeamten übertragen; nur die größten Postanstalten stellen besondre Zählbeamte ein. Und wie wird nun gezahlt? Auf die bequemste Weise, nämlich — gar nicht, wenigstens bei den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/620>, abgerufen am 26.06.2024.