Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.Das schwarze Zeitalter die Ursache ist keine logische, sondern eine psychologische. Nach den Gesetzen Ist diese Gemütsverfassung erst eine Folge der Schienenwege und Dampf¬ Das ist die Mobilisirung der Massen im eigentlichen Sinn. Aber der Das schwarze Zeitalter die Ursache ist keine logische, sondern eine psychologische. Nach den Gesetzen Ist diese Gemütsverfassung erst eine Folge der Schienenwege und Dampf¬ Das ist die Mobilisirung der Massen im eigentlichen Sinn. Aber der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0046" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/226278"/> <fw type="header" place="top"> Das schwarze Zeitalter</fw><lb/> <p xml:id="ID_97" prev="#ID_96"> die Ursache ist keine logische, sondern eine psychologische. Nach den Gesetzen<lb/> der Logik verändern wir unsre Lage nicht schon, wenn die Veränderung<lb/> möglich ist, sondern erst wenn sie uns vorteilhaft erscheint. Bekanntlich sind<lb/> aber Logik und Wirklichkeit zweierlei. Thatsächlich lehrt die Erfahrung, daß<lb/> die bloße Einrichtung neuer Nerkehrsgelegenheiten bis dahin uicht vorhaudne<lb/> Vcrkehrsbedürfuisse veranlaßt und vorhandne steigert. Der Veränderuugstrieb<lb/> ist dem Menschen angeboren, und der Zug in die Ferne insbesondre dem<lb/> Germanen. Zu diesen uralten und unveränderlichen Antrieben gesellt sich in<lb/> unsern Tagen ein neuer und in der Zeit liegender: die innere Leere der<lb/> Gegenwart, das untrügliche Anzeichen eines Übergangszustaudes. Aus ihr<lb/> entspringt die körperliche und seelische Unruhe des modernen Menschen, seine<lb/> Ungenügsamkeit, seine Unfähigkeit zur Sammlung und sinnenden Betrachtung.<lb/> Kontemplation ist ein veralteter Begriff geworden; und daß Spekulation ein¬<lb/> mal etwas andres bedeutete als Spielen an der Börse, wissen uur noch die<lb/> Gelehrten. Man könnte die Fremdwörter leichten Herzens missen, wenn nur<lb/> das, was sie ausdrückten, uoch anzutreffen wäre. Aber dem berufsmäßigen<lb/> Glücksjäger von heute klingt Beschaulichkeit schou fast wie ein Vorwurf. An<lb/> Stelle dieser thätigen Uuthütigkeit des ruhenden Körpers und des aufsteigenden<lb/> Geistes gewahren wir überall nur uoch eine unthätige Geschäftigkeit, ein seelen¬<lb/> loses und hirnloses Umhergctriebenwerdeu, das seinen Grund mehr noch in<lb/> der Angst vor Verarmung als in der Begierde nach Reichtum hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_98"> Ist diese Gemütsverfassung erst eine Folge der Schienenwege und Dampf¬<lb/> schlote, oder ist sie vielmehr deren eigentliche Ursache? Ist es der gesteigerte<lb/> Verkehr, der uns mit der äußern Ruhe auch die innere geraubt hat, oder war<lb/> es die Unruhe einer zur Rüste gehenden Zeit, die sich mit innerer Notwendigkeit<lb/> in die Technik gestürzt und die neuen Beförderungmittel hervorgebracht hat?<lb/> Gleichviel, auf jeden Fall hat mit der Zeit des Dampfes ein Reisen begonnen,<lb/> von dem sich kein früheres Geschlecht eine Vorstellung gemacht hat. Wenn<lb/> man sich vergegenwärtigt, welche Unzahl von Eisenbahnzügen jeden Tag im<lb/> Jahre unser Vaterland durchrasen, und daß sie alle im Durchschnitt gut be¬<lb/> setzt sind, so kann man wohl auf den Gedanken kommen, daß sich entweder<lb/> die Menschheit bis 1850 in einem Traumzustande befunden haben muß, oder<lb/> daß sich die Menschheit nach 1850 in einem Fieberzustande befindet. Sicherlich<lb/> giebt es auch außer der Börse von zwölf bis eins keinen Ort, dessen<lb/> Physiognomie so täuschend an die eines Irrenhauses erinnerte, wie den Bahn¬<lb/> steig eines großem Bahnhofs bei der Ankunft eines Zuges.</p><lb/> <p xml:id="ID_99" next="#ID_100"> Das ist die Mobilisirung der Massen im eigentlichen Sinn. Aber der<lb/> Begriff besagt mehr. Mit der äußerlichen Unbeweglichkeit der untern Volks¬<lb/> schichten hat sich auch die innerliche verloren. Die Veränderung des Auf¬<lb/> enthalts entreißt sie dem ruhigen, aber gedankenlosen Dahinleben in vorge-<lb/> fundnen Geleisen. Sie bringt sie in Berührung mit neuen Gegenden, mit</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0046]
Das schwarze Zeitalter
die Ursache ist keine logische, sondern eine psychologische. Nach den Gesetzen
der Logik verändern wir unsre Lage nicht schon, wenn die Veränderung
möglich ist, sondern erst wenn sie uns vorteilhaft erscheint. Bekanntlich sind
aber Logik und Wirklichkeit zweierlei. Thatsächlich lehrt die Erfahrung, daß
die bloße Einrichtung neuer Nerkehrsgelegenheiten bis dahin uicht vorhaudne
Vcrkehrsbedürfuisse veranlaßt und vorhandne steigert. Der Veränderuugstrieb
ist dem Menschen angeboren, und der Zug in die Ferne insbesondre dem
Germanen. Zu diesen uralten und unveränderlichen Antrieben gesellt sich in
unsern Tagen ein neuer und in der Zeit liegender: die innere Leere der
Gegenwart, das untrügliche Anzeichen eines Übergangszustaudes. Aus ihr
entspringt die körperliche und seelische Unruhe des modernen Menschen, seine
Ungenügsamkeit, seine Unfähigkeit zur Sammlung und sinnenden Betrachtung.
Kontemplation ist ein veralteter Begriff geworden; und daß Spekulation ein¬
mal etwas andres bedeutete als Spielen an der Börse, wissen uur noch die
Gelehrten. Man könnte die Fremdwörter leichten Herzens missen, wenn nur
das, was sie ausdrückten, uoch anzutreffen wäre. Aber dem berufsmäßigen
Glücksjäger von heute klingt Beschaulichkeit schou fast wie ein Vorwurf. An
Stelle dieser thätigen Uuthütigkeit des ruhenden Körpers und des aufsteigenden
Geistes gewahren wir überall nur uoch eine unthätige Geschäftigkeit, ein seelen¬
loses und hirnloses Umhergctriebenwerdeu, das seinen Grund mehr noch in
der Angst vor Verarmung als in der Begierde nach Reichtum hat.
Ist diese Gemütsverfassung erst eine Folge der Schienenwege und Dampf¬
schlote, oder ist sie vielmehr deren eigentliche Ursache? Ist es der gesteigerte
Verkehr, der uns mit der äußern Ruhe auch die innere geraubt hat, oder war
es die Unruhe einer zur Rüste gehenden Zeit, die sich mit innerer Notwendigkeit
in die Technik gestürzt und die neuen Beförderungmittel hervorgebracht hat?
Gleichviel, auf jeden Fall hat mit der Zeit des Dampfes ein Reisen begonnen,
von dem sich kein früheres Geschlecht eine Vorstellung gemacht hat. Wenn
man sich vergegenwärtigt, welche Unzahl von Eisenbahnzügen jeden Tag im
Jahre unser Vaterland durchrasen, und daß sie alle im Durchschnitt gut be¬
setzt sind, so kann man wohl auf den Gedanken kommen, daß sich entweder
die Menschheit bis 1850 in einem Traumzustande befunden haben muß, oder
daß sich die Menschheit nach 1850 in einem Fieberzustande befindet. Sicherlich
giebt es auch außer der Börse von zwölf bis eins keinen Ort, dessen
Physiognomie so täuschend an die eines Irrenhauses erinnerte, wie den Bahn¬
steig eines großem Bahnhofs bei der Ankunft eines Zuges.
Das ist die Mobilisirung der Massen im eigentlichen Sinn. Aber der
Begriff besagt mehr. Mit der äußerlichen Unbeweglichkeit der untern Volks¬
schichten hat sich auch die innerliche verloren. Die Veränderung des Auf¬
enthalts entreißt sie dem ruhigen, aber gedankenlosen Dahinleben in vorge-
fundnen Geleisen. Sie bringt sie in Berührung mit neuen Gegenden, mit
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |