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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Das schwarze Zeitalter

Landhaus am Rhein oder Freytags Verlorne Handschrift? Von Don Quixote
und Wilhelm Meister gar nicht zu reden. Mehr als einen Band dürfen, wie
es scheint, nur noch Konversationslexika und wissenschaftliche Werke aufweisen.
Romane sind schon unvorsichtig, wenn sie so dick werden, daß man sie nicht
von A bis Z im V-Zuge zwischen Berlin und Brüssel durchlesen kann.

Man thäte übrigens der lesenden Menschheit Unrecht, wenn man ihren
Bedarf an Lektüre nach dem Umfang des Angebots bemäße. Zu ihrer Ehre
steht fest, daß vieles ungelesen bleibt, was gedruckt wird. Jeder Buchhändler
weiß ein Lied davon zu singen.

Aber trotz des bescheidnern Umfangs der Bücher und trotz der unzweifel¬
haften Thatsache einer litterarischen Überproduktion kann doch nicht geleugnet
werden, daß der Konsum schreckenerregend ist. Eine Anzahl verschiedner. aber
in paralleler Richtung laufender Bewegungen haben auf diesen Zustand ein¬
gewirkt. Die Ausbreitung des Schulunterrichts im neunzehnten Jahrhundert
hat die frühere überwältigende Mehrheit der leseunkundigen Personen in manchen
Ländern schon in eine Minderheit verwandelt. Und mehr noch als die Schule
hat das moderne Leben selbst ein Bildungsbedürfnis von nie gekannter Stärke
hervorgetrieben.

Wenn es für die vielfältigen eigentümlichen Erscheinungen in dem öffent¬
lichen Leben der Neuzeit eine gemeinschaftliche Ursache giebt, so ist es die
Mobilisirung der Massen. Die schwer beweglichen Volksschichten, die so lange
nur die breite Untermauerung für das kunstvoll gegliederte Bauwerk der ge¬
bildeten Gesellschaft darstellten, sind in Fluß geraten; mag uns dieser neue
Zustand unsers Volkskörpers nnn angenehme oder unbehagliche Empfindungen
erwecken, sein Vorhandensein fühlen wir alle. Jeder Einsichtige erkennt in
ihm eine geschichtliche Thatsache und begreift. daß es keine Rückkehr zu dem
frühern Zustande giebt.

Die Mobilisirung der Massen begann zuerst im eigentlichen Sinn. Eisen¬
bahnen und Dampfschiffe erniedrigten die natürlichen Verkehrsschranken des
Raumes, die sür den kleinen Mann fast unübersteiglich waren. Zwar war
seine gesetzliche Loslösung von der Scholle schon früher erfolgt, aber sie hatte
wenig für ihn bedeutet, solange ihm die Möglichkeit fehlte, vou der neuen
Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen. Auch die Eisenbahn eröffnete den
kleinen Leuten diese Möglichkeit nicht unbedingt; ganz ohne Geld ließ sich anch
auf ihr nicht reisen. Im Vergleich mit der frühern Gebundenheit war aber
die neue Verkehrsmöglichkeit doch fast unbeschränkt zu nennen. Den Beschluß
machte dann wieder die Gesetzgebung, indem sie die letzten rechtlichen Hinder¬
nisse der freien Bewegung aufhob: Paßzwang, Answanderungsverbot und wie
sie sonst heißen mochten.

Es ist ein reizvolles Unternehmen, zu ergründen, warum die erweiterte
Möglichkeit zu reisen so viele Menschen alsbald zum Reisen veranlaßte. Denn


Das schwarze Zeitalter

Landhaus am Rhein oder Freytags Verlorne Handschrift? Von Don Quixote
und Wilhelm Meister gar nicht zu reden. Mehr als einen Band dürfen, wie
es scheint, nur noch Konversationslexika und wissenschaftliche Werke aufweisen.
Romane sind schon unvorsichtig, wenn sie so dick werden, daß man sie nicht
von A bis Z im V-Zuge zwischen Berlin und Brüssel durchlesen kann.

Man thäte übrigens der lesenden Menschheit Unrecht, wenn man ihren
Bedarf an Lektüre nach dem Umfang des Angebots bemäße. Zu ihrer Ehre
steht fest, daß vieles ungelesen bleibt, was gedruckt wird. Jeder Buchhändler
weiß ein Lied davon zu singen.

Aber trotz des bescheidnern Umfangs der Bücher und trotz der unzweifel¬
haften Thatsache einer litterarischen Überproduktion kann doch nicht geleugnet
werden, daß der Konsum schreckenerregend ist. Eine Anzahl verschiedner. aber
in paralleler Richtung laufender Bewegungen haben auf diesen Zustand ein¬
gewirkt. Die Ausbreitung des Schulunterrichts im neunzehnten Jahrhundert
hat die frühere überwältigende Mehrheit der leseunkundigen Personen in manchen
Ländern schon in eine Minderheit verwandelt. Und mehr noch als die Schule
hat das moderne Leben selbst ein Bildungsbedürfnis von nie gekannter Stärke
hervorgetrieben.

Wenn es für die vielfältigen eigentümlichen Erscheinungen in dem öffent¬
lichen Leben der Neuzeit eine gemeinschaftliche Ursache giebt, so ist es die
Mobilisirung der Massen. Die schwer beweglichen Volksschichten, die so lange
nur die breite Untermauerung für das kunstvoll gegliederte Bauwerk der ge¬
bildeten Gesellschaft darstellten, sind in Fluß geraten; mag uns dieser neue
Zustand unsers Volkskörpers nnn angenehme oder unbehagliche Empfindungen
erwecken, sein Vorhandensein fühlen wir alle. Jeder Einsichtige erkennt in
ihm eine geschichtliche Thatsache und begreift. daß es keine Rückkehr zu dem
frühern Zustande giebt.

Die Mobilisirung der Massen begann zuerst im eigentlichen Sinn. Eisen¬
bahnen und Dampfschiffe erniedrigten die natürlichen Verkehrsschranken des
Raumes, die sür den kleinen Mann fast unübersteiglich waren. Zwar war
seine gesetzliche Loslösung von der Scholle schon früher erfolgt, aber sie hatte
wenig für ihn bedeutet, solange ihm die Möglichkeit fehlte, vou der neuen
Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen. Auch die Eisenbahn eröffnete den
kleinen Leuten diese Möglichkeit nicht unbedingt; ganz ohne Geld ließ sich anch
auf ihr nicht reisen. Im Vergleich mit der frühern Gebundenheit war aber
die neue Verkehrsmöglichkeit doch fast unbeschränkt zu nennen. Den Beschluß
machte dann wieder die Gesetzgebung, indem sie die letzten rechtlichen Hinder¬
nisse der freien Bewegung aufhob: Paßzwang, Answanderungsverbot und wie
sie sonst heißen mochten.

Es ist ein reizvolles Unternehmen, zu ergründen, warum die erweiterte
Möglichkeit zu reisen so viele Menschen alsbald zum Reisen veranlaßte. Denn


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[0045] Das schwarze Zeitalter Landhaus am Rhein oder Freytags Verlorne Handschrift? Von Don Quixote und Wilhelm Meister gar nicht zu reden. Mehr als einen Band dürfen, wie es scheint, nur noch Konversationslexika und wissenschaftliche Werke aufweisen. Romane sind schon unvorsichtig, wenn sie so dick werden, daß man sie nicht von A bis Z im V-Zuge zwischen Berlin und Brüssel durchlesen kann. Man thäte übrigens der lesenden Menschheit Unrecht, wenn man ihren Bedarf an Lektüre nach dem Umfang des Angebots bemäße. Zu ihrer Ehre steht fest, daß vieles ungelesen bleibt, was gedruckt wird. Jeder Buchhändler weiß ein Lied davon zu singen. Aber trotz des bescheidnern Umfangs der Bücher und trotz der unzweifel¬ haften Thatsache einer litterarischen Überproduktion kann doch nicht geleugnet werden, daß der Konsum schreckenerregend ist. Eine Anzahl verschiedner. aber in paralleler Richtung laufender Bewegungen haben auf diesen Zustand ein¬ gewirkt. Die Ausbreitung des Schulunterrichts im neunzehnten Jahrhundert hat die frühere überwältigende Mehrheit der leseunkundigen Personen in manchen Ländern schon in eine Minderheit verwandelt. Und mehr noch als die Schule hat das moderne Leben selbst ein Bildungsbedürfnis von nie gekannter Stärke hervorgetrieben. Wenn es für die vielfältigen eigentümlichen Erscheinungen in dem öffent¬ lichen Leben der Neuzeit eine gemeinschaftliche Ursache giebt, so ist es die Mobilisirung der Massen. Die schwer beweglichen Volksschichten, die so lange nur die breite Untermauerung für das kunstvoll gegliederte Bauwerk der ge¬ bildeten Gesellschaft darstellten, sind in Fluß geraten; mag uns dieser neue Zustand unsers Volkskörpers nnn angenehme oder unbehagliche Empfindungen erwecken, sein Vorhandensein fühlen wir alle. Jeder Einsichtige erkennt in ihm eine geschichtliche Thatsache und begreift. daß es keine Rückkehr zu dem frühern Zustande giebt. Die Mobilisirung der Massen begann zuerst im eigentlichen Sinn. Eisen¬ bahnen und Dampfschiffe erniedrigten die natürlichen Verkehrsschranken des Raumes, die sür den kleinen Mann fast unübersteiglich waren. Zwar war seine gesetzliche Loslösung von der Scholle schon früher erfolgt, aber sie hatte wenig für ihn bedeutet, solange ihm die Möglichkeit fehlte, vou der neuen Bewegungsfreiheit Gebrauch zu machen. Auch die Eisenbahn eröffnete den kleinen Leuten diese Möglichkeit nicht unbedingt; ganz ohne Geld ließ sich anch auf ihr nicht reisen. Im Vergleich mit der frühern Gebundenheit war aber die neue Verkehrsmöglichkeit doch fast unbeschränkt zu nennen. Den Beschluß machte dann wieder die Gesetzgebung, indem sie die letzten rechtlichen Hinder¬ nisse der freien Bewegung aufhob: Paßzwang, Answanderungsverbot und wie sie sonst heißen mochten. Es ist ein reizvolles Unternehmen, zu ergründen, warum die erweiterte Möglichkeit zu reisen so viele Menschen alsbald zum Reisen veranlaßte. Denn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/45>, abgerufen am 22.07.2024.