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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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noch weit mehr, als in seinen Romanen, in seiner Lyrik zum Ausdruck kommt.
Es ist, als ob sich seine Muse nicht wohl fühlte auf dem Boden der Wirklich¬
keit, als ob sie nicht immer ein rechtes Verständnis für die Gedanken und
Gefühle der Menschen Hütte, als ob sie sich erst hinausretten müßte in die
herrliche Natur, in den Wald, ans Meer, wo sie die drückenden Fesseln ab¬
werfen, das beengende Menschengewand abstreifen und sich in ihrer natürlichen
Schönheit zeigen darf. Freilich sind Jensens Gedichte nur dem kleinsten Teile
des Publikums bekannt. Dies Schicksal teilt er mit seinem Landsmann Storm,
auch mit Fontane und Heyse. Daß aber gerade die Lyrik Jensens ureigenstes
Gebiet ist, beweist die kürzlich erschienene Sammlung seiner Gedichte: Vom
Morgen zum Abend. Ausgewählte Gedichte von Wilhelm Imsen. Mit
dem Bildnis des Dichters. (Weimar, Emil Felder, 1897.)

Jensens Muse trügt jährlich ein paar Bände zu Markte, da der Dichter
nur selten die Feder aus der Hand legt. Aber er dichtet mehr für sich als
für andre. Es ist eine Mußestundenlyrik, eine Art Freistundenübung. Imsen
dichtet nicht nur, wenn ihn etwas zum Dichten treibt, wenn eine Stimmung,
ein Gefühl in ihm nach dichterischem Ausdruck verlangt, wenn es in ihm
stürmt und gährt: er dichtet immer, täglich, auch wenn ihn Glück und Friede
umfangen. Daher geben seine Gedichte ein vollständiges Lebensbild des
Dichters. Ihre Schönheit liegt nicht immer aufdringlich zu Tage, aber dem
eingehenden Beobachter erschließt sie sich um so herrlicher. Für solche, die
gereizt, gekitzelt werden wollen, bietet die Sammlung nichts. Man legt das
Buch nicht mit einem Stachel im Herzen aus der Hand, sondern mit einem
Gefühl der Beruhigung, Erhebung, Läuterung. Es ist eine Betrachtungs¬
und Gefühlslyrik, die nachempfunden werden muß; Gedanken, die das Leben
eines Mannes erfüllt haben, voll tiefem Phantasie- und Gemütsreichtum,
Stimmungsbilder, deren Themen nicht immer neu sind, denen aber doch der
Stempel eigenster Empfindung aufgedrückt ist.

Imsen hat in der "Geschichte des Erstlingswerks" mit viel Humor erzählt,
wie er seinerzeit in seinem Erstling ein bischen herumzublättern angefangen
habe und unwillkürlich einmal auf den Umschlag nach dem Autornamen habe
sehen müssen, da es ihm plötzlich gewesen sei, als hätte sich die löbliche Ver¬
lagsbuchhandlung vergriffen und ihm Exemplare einer Novelle seines lieben
Landmanns Storm zugeschickt. Dieser nachhaltige Einfluß Storms ist in
den Gedichten nicht so stark zu spüren wie in den Novellen der ersten Zeit,
und es ist sehr schwer zu sagen, wann diese Abhängigkeit aufgehört und Imsen
eigne Töne gefunden hat, wie es überhaupt kaum möglich ist, in dieser Lyrik
eine Entwicklung nachzuweisen. Ich wenigstens wage nicht zu entscheiden, was
der Jüngling, was der Mann gedichtet hat. Jensens lyrisches Talent muß
schon früh ausgereift gewesen sein. Die Zahl der Gedichte, die als unsicher
und spröde in der Form Anstoß erregen, oder als gedankenleer und flach ein-


noch weit mehr, als in seinen Romanen, in seiner Lyrik zum Ausdruck kommt.
Es ist, als ob sich seine Muse nicht wohl fühlte auf dem Boden der Wirklich¬
keit, als ob sie nicht immer ein rechtes Verständnis für die Gedanken und
Gefühle der Menschen Hütte, als ob sie sich erst hinausretten müßte in die
herrliche Natur, in den Wald, ans Meer, wo sie die drückenden Fesseln ab¬
werfen, das beengende Menschengewand abstreifen und sich in ihrer natürlichen
Schönheit zeigen darf. Freilich sind Jensens Gedichte nur dem kleinsten Teile
des Publikums bekannt. Dies Schicksal teilt er mit seinem Landsmann Storm,
auch mit Fontane und Heyse. Daß aber gerade die Lyrik Jensens ureigenstes
Gebiet ist, beweist die kürzlich erschienene Sammlung seiner Gedichte: Vom
Morgen zum Abend. Ausgewählte Gedichte von Wilhelm Imsen. Mit
dem Bildnis des Dichters. (Weimar, Emil Felder, 1897.)

Jensens Muse trügt jährlich ein paar Bände zu Markte, da der Dichter
nur selten die Feder aus der Hand legt. Aber er dichtet mehr für sich als
für andre. Es ist eine Mußestundenlyrik, eine Art Freistundenübung. Imsen
dichtet nicht nur, wenn ihn etwas zum Dichten treibt, wenn eine Stimmung,
ein Gefühl in ihm nach dichterischem Ausdruck verlangt, wenn es in ihm
stürmt und gährt: er dichtet immer, täglich, auch wenn ihn Glück und Friede
umfangen. Daher geben seine Gedichte ein vollständiges Lebensbild des
Dichters. Ihre Schönheit liegt nicht immer aufdringlich zu Tage, aber dem
eingehenden Beobachter erschließt sie sich um so herrlicher. Für solche, die
gereizt, gekitzelt werden wollen, bietet die Sammlung nichts. Man legt das
Buch nicht mit einem Stachel im Herzen aus der Hand, sondern mit einem
Gefühl der Beruhigung, Erhebung, Läuterung. Es ist eine Betrachtungs¬
und Gefühlslyrik, die nachempfunden werden muß; Gedanken, die das Leben
eines Mannes erfüllt haben, voll tiefem Phantasie- und Gemütsreichtum,
Stimmungsbilder, deren Themen nicht immer neu sind, denen aber doch der
Stempel eigenster Empfindung aufgedrückt ist.

Imsen hat in der „Geschichte des Erstlingswerks" mit viel Humor erzählt,
wie er seinerzeit in seinem Erstling ein bischen herumzublättern angefangen
habe und unwillkürlich einmal auf den Umschlag nach dem Autornamen habe
sehen müssen, da es ihm plötzlich gewesen sei, als hätte sich die löbliche Ver¬
lagsbuchhandlung vergriffen und ihm Exemplare einer Novelle seines lieben
Landmanns Storm zugeschickt. Dieser nachhaltige Einfluß Storms ist in
den Gedichten nicht so stark zu spüren wie in den Novellen der ersten Zeit,
und es ist sehr schwer zu sagen, wann diese Abhängigkeit aufgehört und Imsen
eigne Töne gefunden hat, wie es überhaupt kaum möglich ist, in dieser Lyrik
eine Entwicklung nachzuweisen. Ich wenigstens wage nicht zu entscheiden, was
der Jüngling, was der Mann gedichtet hat. Jensens lyrisches Talent muß
schon früh ausgereift gewesen sein. Die Zahl der Gedichte, die als unsicher
und spröde in der Form Anstoß erregen, oder als gedankenleer und flach ein-


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[0332] noch weit mehr, als in seinen Romanen, in seiner Lyrik zum Ausdruck kommt. Es ist, als ob sich seine Muse nicht wohl fühlte auf dem Boden der Wirklich¬ keit, als ob sie nicht immer ein rechtes Verständnis für die Gedanken und Gefühle der Menschen Hütte, als ob sie sich erst hinausretten müßte in die herrliche Natur, in den Wald, ans Meer, wo sie die drückenden Fesseln ab¬ werfen, das beengende Menschengewand abstreifen und sich in ihrer natürlichen Schönheit zeigen darf. Freilich sind Jensens Gedichte nur dem kleinsten Teile des Publikums bekannt. Dies Schicksal teilt er mit seinem Landsmann Storm, auch mit Fontane und Heyse. Daß aber gerade die Lyrik Jensens ureigenstes Gebiet ist, beweist die kürzlich erschienene Sammlung seiner Gedichte: Vom Morgen zum Abend. Ausgewählte Gedichte von Wilhelm Imsen. Mit dem Bildnis des Dichters. (Weimar, Emil Felder, 1897.) Jensens Muse trügt jährlich ein paar Bände zu Markte, da der Dichter nur selten die Feder aus der Hand legt. Aber er dichtet mehr für sich als für andre. Es ist eine Mußestundenlyrik, eine Art Freistundenübung. Imsen dichtet nicht nur, wenn ihn etwas zum Dichten treibt, wenn eine Stimmung, ein Gefühl in ihm nach dichterischem Ausdruck verlangt, wenn es in ihm stürmt und gährt: er dichtet immer, täglich, auch wenn ihn Glück und Friede umfangen. Daher geben seine Gedichte ein vollständiges Lebensbild des Dichters. Ihre Schönheit liegt nicht immer aufdringlich zu Tage, aber dem eingehenden Beobachter erschließt sie sich um so herrlicher. Für solche, die gereizt, gekitzelt werden wollen, bietet die Sammlung nichts. Man legt das Buch nicht mit einem Stachel im Herzen aus der Hand, sondern mit einem Gefühl der Beruhigung, Erhebung, Läuterung. Es ist eine Betrachtungs¬ und Gefühlslyrik, die nachempfunden werden muß; Gedanken, die das Leben eines Mannes erfüllt haben, voll tiefem Phantasie- und Gemütsreichtum, Stimmungsbilder, deren Themen nicht immer neu sind, denen aber doch der Stempel eigenster Empfindung aufgedrückt ist. Imsen hat in der „Geschichte des Erstlingswerks" mit viel Humor erzählt, wie er seinerzeit in seinem Erstling ein bischen herumzublättern angefangen habe und unwillkürlich einmal auf den Umschlag nach dem Autornamen habe sehen müssen, da es ihm plötzlich gewesen sei, als hätte sich die löbliche Ver¬ lagsbuchhandlung vergriffen und ihm Exemplare einer Novelle seines lieben Landmanns Storm zugeschickt. Dieser nachhaltige Einfluß Storms ist in den Gedichten nicht so stark zu spüren wie in den Novellen der ersten Zeit, und es ist sehr schwer zu sagen, wann diese Abhängigkeit aufgehört und Imsen eigne Töne gefunden hat, wie es überhaupt kaum möglich ist, in dieser Lyrik eine Entwicklung nachzuweisen. Ich wenigstens wage nicht zu entscheiden, was der Jüngling, was der Mann gedichtet hat. Jensens lyrisches Talent muß schon früh ausgereift gewesen sein. Die Zahl der Gedichte, die als unsicher und spröde in der Form Anstoß erregen, oder als gedankenleer und flach ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/332>, abgerufen am 26.06.2024.