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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Litteratur

müsse, sieht Elster darin nur eine Grenze für die Untersuchung, nicht ihre Ver¬
eitlung. Und wir geben gern zu, daß er damit Recht hat. Es giebt eine Fülle
von Mitteln, durch die auch der nicht "kongeniale," aber genau beobachtende und
zergliedernde Richter des litterarischen Kunstwerkes nahe an das intuitive Urteil
des bloß Mitfühlenden hinankommt.

Das nachgewiesen zu haben ist ein großes Verdienst Elsters. Wir können
ihm hier nicht durch die vielverschlungnen Gänge seiner Untersuchung folgen, können
auch kaum ein einzelnes Glied aus der festgeschmiedeten Kette seiner Schlüsse heraus¬
lösen und unsern Lesern zeigen. Elster ist der erste -- diese Hauptsache muß auch
eine summarische Anzeige seines gedankenreichen Buches herausheben --, der erste,
der die Psychologie auf die Litteraturgeschichte anwendet, nicht jene "Psychologie,"
die manche so gern als einen hochklingenden Namen für ihr bischen zufällige Lebens-
erfahrung brauchen, sondern die ernste, strenge psychologische Wissenschaft in der
Form und mit den Ergebnissen, die wir Wilhelm Wunde verdanken. Wenn die
Psychologie lehrt, den Verlauf, das Jneinanderspielen der geistigen Prozesse zu er¬
forschen, die Gesetze zu finden, nach denen sich die Phantasie, das Gedächtnis, die
Assoziatiouskraft bethätigen, und wenn die Psychologie nicht nur den Weg, sondern
auch das Wesen aller seelischen Thätigkeiten bis zu einem gewissen Grade zu er¬
kennen vermag, so wird sie auch imstande sein, die Eigenart so besonders merk¬
würdiger psychologischer Gebilde, wie es die Dichter und ihre Werke sind, zu er¬
fassen. So hat denn Elster versucht, mit dem psychologischen Rüstzeug, das ihm
Wundt in die Hand gegeben, oder das er sich nach Wuudtscher Methode selbst ge¬
schmiedet hat, in das Wesen besonders unsrer großen Dichter einzudringen; wir
lesen eine Fülle treffender und neuer Erörterungen über Lessings, Goethes,
Schillers geistige Eigenart; neu z. B. war uns -- nicht die Thatsache -- aber
der durch genaue Beobachtung geführte Nachweis, wie sehr Goethes Phantasieleben
in der Anschaulichkeit, das Schillers in einer starken Assoziationsfähigkeit wurzelt.
Besonders anziehend ist das Kapitel über "Gefühl und Lebensanschauungen der
Dichter," worin Elster unter psychologischen Kategorien (Selbstgefühl, Mitgefühl,
die Gemeinschaftsgefühle, die religiösen Gefühle) vollständig neue Lichter auf unsre
Klassiker, wohl auch auf einzelne neuere Schriftsteller fallen läßt.

Wir haben von diesem Werke, das uns mehr fördern wird als alle
Poetiken, noch einen zweiten Band zu erwarten. Hierin werden die Metrik und
die Gattungen der Poesie behandelt, dann aber die einzelnen Aufgaben der
Literaturwissenschaft, insbesondre auch die historischen untersucht werden. Es ist
also anzunehmen, daß wir darin auch eine zusammenhängende und wohlbegründete
Kritik unsrer Litteraturgeschichten erhalten werden. Es wäre ein großes Verdienst,
wenn hier einmal der Grund aufgedeckt würde, warum wir immer noch keine aus¬
reichende Gesamtdarstellung der Geschichte unsers Schrifttums haben.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

müsse, sieht Elster darin nur eine Grenze für die Untersuchung, nicht ihre Ver¬
eitlung. Und wir geben gern zu, daß er damit Recht hat. Es giebt eine Fülle
von Mitteln, durch die auch der nicht „kongeniale," aber genau beobachtende und
zergliedernde Richter des litterarischen Kunstwerkes nahe an das intuitive Urteil
des bloß Mitfühlenden hinankommt.

Das nachgewiesen zu haben ist ein großes Verdienst Elsters. Wir können
ihm hier nicht durch die vielverschlungnen Gänge seiner Untersuchung folgen, können
auch kaum ein einzelnes Glied aus der festgeschmiedeten Kette seiner Schlüsse heraus¬
lösen und unsern Lesern zeigen. Elster ist der erste — diese Hauptsache muß auch
eine summarische Anzeige seines gedankenreichen Buches herausheben —, der erste,
der die Psychologie auf die Litteraturgeschichte anwendet, nicht jene „Psychologie,"
die manche so gern als einen hochklingenden Namen für ihr bischen zufällige Lebens-
erfahrung brauchen, sondern die ernste, strenge psychologische Wissenschaft in der
Form und mit den Ergebnissen, die wir Wilhelm Wunde verdanken. Wenn die
Psychologie lehrt, den Verlauf, das Jneinanderspielen der geistigen Prozesse zu er¬
forschen, die Gesetze zu finden, nach denen sich die Phantasie, das Gedächtnis, die
Assoziatiouskraft bethätigen, und wenn die Psychologie nicht nur den Weg, sondern
auch das Wesen aller seelischen Thätigkeiten bis zu einem gewissen Grade zu er¬
kennen vermag, so wird sie auch imstande sein, die Eigenart so besonders merk¬
würdiger psychologischer Gebilde, wie es die Dichter und ihre Werke sind, zu er¬
fassen. So hat denn Elster versucht, mit dem psychologischen Rüstzeug, das ihm
Wundt in die Hand gegeben, oder das er sich nach Wuudtscher Methode selbst ge¬
schmiedet hat, in das Wesen besonders unsrer großen Dichter einzudringen; wir
lesen eine Fülle treffender und neuer Erörterungen über Lessings, Goethes,
Schillers geistige Eigenart; neu z. B. war uns — nicht die Thatsache — aber
der durch genaue Beobachtung geführte Nachweis, wie sehr Goethes Phantasieleben
in der Anschaulichkeit, das Schillers in einer starken Assoziationsfähigkeit wurzelt.
Besonders anziehend ist das Kapitel über „Gefühl und Lebensanschauungen der
Dichter," worin Elster unter psychologischen Kategorien (Selbstgefühl, Mitgefühl,
die Gemeinschaftsgefühle, die religiösen Gefühle) vollständig neue Lichter auf unsre
Klassiker, wohl auch auf einzelne neuere Schriftsteller fallen läßt.

Wir haben von diesem Werke, das uns mehr fördern wird als alle
Poetiken, noch einen zweiten Band zu erwarten. Hierin werden die Metrik und
die Gattungen der Poesie behandelt, dann aber die einzelnen Aufgaben der
Literaturwissenschaft, insbesondre auch die historischen untersucht werden. Es ist
also anzunehmen, daß wir darin auch eine zusammenhängende und wohlbegründete
Kritik unsrer Litteraturgeschichten erhalten werden. Es wäre ein großes Verdienst,
wenn hier einmal der Grund aufgedeckt würde, warum wir immer noch keine aus¬
reichende Gesamtdarstellung der Geschichte unsers Schrifttums haben.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0306] Litteratur müsse, sieht Elster darin nur eine Grenze für die Untersuchung, nicht ihre Ver¬ eitlung. Und wir geben gern zu, daß er damit Recht hat. Es giebt eine Fülle von Mitteln, durch die auch der nicht „kongeniale," aber genau beobachtende und zergliedernde Richter des litterarischen Kunstwerkes nahe an das intuitive Urteil des bloß Mitfühlenden hinankommt. Das nachgewiesen zu haben ist ein großes Verdienst Elsters. Wir können ihm hier nicht durch die vielverschlungnen Gänge seiner Untersuchung folgen, können auch kaum ein einzelnes Glied aus der festgeschmiedeten Kette seiner Schlüsse heraus¬ lösen und unsern Lesern zeigen. Elster ist der erste — diese Hauptsache muß auch eine summarische Anzeige seines gedankenreichen Buches herausheben —, der erste, der die Psychologie auf die Litteraturgeschichte anwendet, nicht jene „Psychologie," die manche so gern als einen hochklingenden Namen für ihr bischen zufällige Lebens- erfahrung brauchen, sondern die ernste, strenge psychologische Wissenschaft in der Form und mit den Ergebnissen, die wir Wilhelm Wunde verdanken. Wenn die Psychologie lehrt, den Verlauf, das Jneinanderspielen der geistigen Prozesse zu er¬ forschen, die Gesetze zu finden, nach denen sich die Phantasie, das Gedächtnis, die Assoziatiouskraft bethätigen, und wenn die Psychologie nicht nur den Weg, sondern auch das Wesen aller seelischen Thätigkeiten bis zu einem gewissen Grade zu er¬ kennen vermag, so wird sie auch imstande sein, die Eigenart so besonders merk¬ würdiger psychologischer Gebilde, wie es die Dichter und ihre Werke sind, zu er¬ fassen. So hat denn Elster versucht, mit dem psychologischen Rüstzeug, das ihm Wundt in die Hand gegeben, oder das er sich nach Wuudtscher Methode selbst ge¬ schmiedet hat, in das Wesen besonders unsrer großen Dichter einzudringen; wir lesen eine Fülle treffender und neuer Erörterungen über Lessings, Goethes, Schillers geistige Eigenart; neu z. B. war uns — nicht die Thatsache — aber der durch genaue Beobachtung geführte Nachweis, wie sehr Goethes Phantasieleben in der Anschaulichkeit, das Schillers in einer starken Assoziationsfähigkeit wurzelt. Besonders anziehend ist das Kapitel über „Gefühl und Lebensanschauungen der Dichter," worin Elster unter psychologischen Kategorien (Selbstgefühl, Mitgefühl, die Gemeinschaftsgefühle, die religiösen Gefühle) vollständig neue Lichter auf unsre Klassiker, wohl auch auf einzelne neuere Schriftsteller fallen läßt. Wir haben von diesem Werke, das uns mehr fördern wird als alle Poetiken, noch einen zweiten Band zu erwarten. Hierin werden die Metrik und die Gattungen der Poesie behandelt, dann aber die einzelnen Aufgaben der Literaturwissenschaft, insbesondre auch die historischen untersucht werden. Es ist also anzunehmen, daß wir darin auch eine zusammenhängende und wohlbegründete Kritik unsrer Litteraturgeschichten erhalten werden. Es wäre ein großes Verdienst, wenn hier einmal der Grund aufgedeckt würde, warum wir immer noch keine aus¬ reichende Gesamtdarstellung der Geschichte unsers Schrifttums haben. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/306>, abgerufen am 26.06.2024.